Interview mit Prof. Dr. Harald Schmitz, Vorstandsvorsitzender der Bank für Sozialwirtschaft
Interview mit Prof. Dr. Harald Schmitz, Vorstandsvorsitzender der Bank für Sozialwirtschaft, zu: Finanzierung der Wohlfahrtspflege, aktuelle Herausforderungen für die Sozial- und Gesundheitswirtschaft, Inflation, Zinsentwicklung
Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Schmitz, am 10. März 2023 beging die Bank für Sozialwirtschaft ihr 100jähriges Jubiläum. Sie wurde in Berlin am 10. März 1923 als „Hilfskasse gemeinnütziger Wohlfahrtseinrichtungen Deutschlands GmbH“ gegründet. Was war der historische Hintergrund der Gründung? „Die Hilfskasse wurde aus der Not heraus geboren. Die Freie Wohlfahrtspflege war damals zwar bereits gesetzlich etabliert, aber ihr fehlten die Mittel für wirksames Handeln. Angesichts der katastrophalen Verhältnisse – galoppierende Inflation, politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Krise – sahen sich die Verbände Millionen von Hilfsbedürftigen gegenüber. Mitte Januar 1923 wandten sie sich an Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns. Sie baten um Darlehen oder, als noch bessere Alternative, um die Schaffung einer eigenen Einrichtung zur Kreditvergabe an die Wohlfahrtspflege. Diese Idee fand beim Minister Gehör und wurde innerhalb kürzester Zeit umgesetzt. Keine zwei Monate später war die Hilfskasse bereits gegründet, mit einem Stammkapital in Höhe von 800.000 Mark als zinsgünstiges Darlehen aus den Mitteln des Wirtschaftsministeriums. Der Satzungsauftrag der Bank und ihr Gesellschafterkreis sind heute fast identisch mit damals.“
Die ZWST als Wohlfahrtsverband gehört zu den Mitbegründern der Bank. Das Geburtsdatum der damaligen „Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden" war im Jahr 1917, um die vielfältigen sozialen Einrichtungen der jüdischen Gemeinschaft zu koordinieren. Wie würden Sie die Rolle der ZWST als Mitbegründerin der Bank für Sozialwirtschaft bewerten? „Für die Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden hat deren Syndikus, Rechtsanwalt Dr. Alexander Philipsborn, die Gründung der Bank vorangetrieben. Er brachte juristische Expertise in die Gründungsberatungen ein und unterzeichnete den Brief an Reichsarbeitsminister Brauns für die ZWST. Von 1923 bis 1931 war er im Aufsichtsrat der Hilfskasse. Seine Beteiligung stellte sicher, dass alle wichtigen Akteure der Wohlfahrtspflege an einem Strang ziehen. Nur gemeinsam konnte die verbandlich organisierte Wohlfahrtspflege die Gründung einer von der Reichsregierung subventionierten Kreditanstalt erreichen. Auch heute stellt die ZWST ein Mitglied des Aufsichtsrates der Bank.“
Seit ihrer Gründung hat die Bank für Sozialwirtschaft mehrere Stationen durchlaufen: Von der Hilfskasse bis hin zur heutigen Bank für Sozialwirtschaft als Aktiengesellschaft mit 15 Standorten und einem Büro in Brüssel. Wie würden Sie diese Stationen beschreiben – mit Blick auf den sozialen Auftrag der Bank und ihr Alleinstellungsmerkmal als einzige Bank für institutionelle Kunden aus der Sozial- und Gesundheitswirtschaft? „Wir können die Geschichte der Bank in mehrere Epochen gliedern: Auf die Gründungszeit mit früher Wirksamkeit der Hilfskasse zur Unterstützung der freien Wohlfahrtspflege folgte im Nationalsozialismus eine Phase der Vereinnahmung von Verbänden und ihrer Hilfskasse durch das NS-Regime. So musste die ZWST zwangsweise als Gesellschafterin der Hilfskasse ausscheide, 1934 wurde sie aufgelöst. Nach dem Krieg konnten die Verbände und ihre Hilfskasse ihre Zusammenarbeit schrittweise wieder aufnehmen – mit dem im Kern gleichen Auftrag wie in der Weimarer Republik. Die 1951 neu gegründete ´Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland` (ZWST) beteiligte sich schnell wieder an der Hilfskasse, die damit erneut alle wichtigen Wohlfahrtsverbände unter ihrem Dach vereinte.
Seitdem lassen sich weitere Phasen unterscheiden, beispielsweise geprägt durch die „Neue Subsidarität“ der 1970er- und 80er Jahre, die Pluralisierung der Trägerlandschaft, die deutsche Wiedervereinigung oder Megatrends wie die Digitalisierung. Diese Phasen unterscheiden sich vor allem durch die sich verändernden Umstände und den daraus resultierenden Anpassungsdruck auf die Sozial- und Gesundheitswirtschaft. Der Auftrag der Bank und ihr Selbstanspruch, zu jeder Zeit als Partnerin an der Seite der Sozialwirtschaft zu stehen, sind immer identisch geblieben. Um ihren Auftrag zu erfüllen, hat die Sozialbank – diesen Namen verwenden wir übrigens weiterhin mit Stolz – derartige Entwicklungen aktiv und möglichst vorausschauend begleitet. Wir haben im Laufe der Zeit viele zukunftweisende Dienstleistungen und Produkte auf den Weg gebracht, um den spezifischen Bedarfen unserer Kunden und Partner zu begegnen und sie darin zu unterstützen, bedürftigen Menschen zu helfen.
Ein Beispiel ist der Revolvingfonds. Schon 1924 vergab die Hilfskasse treuhänderisch die ersten ´Reichsmittel zur Förderung der freien Wohlfahrtspflege`. Sie bildeten die Grundlage für einen revolvierenden ´Anstaltskredit-Fonds`. Dieser ist ein Vorläufer des bis heute bestehenden Revolvingfonds für die Freie Wohlfahrtspflege. 2018 wurde er zuletzt ausgeweitet, aufgestockt und bis 2050 verlängert. Da die Tilgungszahlungen in den Fonds zurückfließen, können sie immer wieder neu als Kredite vergeben werden.“
In einer jüngst vom Europäischen Parlament in Auftrag gegebenen Umfrage gaben 93 Prozent der Befragten an, dass ihnen steigende Preise etwa für Nahrungsmittel und Energie Sorgen machen. Verbunden damit ist eine zweite Sorge: 82 Prozent der Europäer fürchten sich vor Armut und sozialen Abstieg. Zahlreiche Volkswirtschaftsexperten plädieren jedoch für weitere Zinserhöhungen. Droht Deutschland eine Preis-Lohn-Spirale? „Die hohe Inflation belastet am stärksten Haushalte mit niedrigen Einkommen. Der Druck auf das Lohnwachstum der Arbeitnehmer:innen steigt. Es ist zu erwarten, dass die Lohnerhöhungen im gesamten europäischen Raum höher ausfallen werden und somit auch die Preise über einen längeren Zeitraum weiter wachsen. Die wechselseitigen Zusammenhänge zwischen Lohn- und Preissteigerungen lösen eine Kettenreaktion aus, die wir als Lohn-Preis-Spirale bezeichnen. In Deutschland haben Gewerkschaftsvertreter:innen bereits signifikante Lohnforderungen gestellt. Folglich befinden wir uns auch in Deutschland auf einem anfänglichen Pfad einer Lohn-Preis-Spirale.
Mit Blick auf das gesamtwirtschaftliche Umfeld decken sich unsere Einschätzungen mit denen der meisten Kolleg:innen. Die Inflation wird uns noch eine Weile begleiten und nur langsam zurückgehen. Bis die von der EZB langfristig angestrebten 2 Prozent wieder dauerhaft erreicht werden, vergehen wohl noch mehrere Jahre. Mittelfristig dürfte das Ziel in der Praxis eher bei 2,2 bis 2,5 Prozent liegen, weil der Inflationsdruck aufgrund der Unterstützungsmaßnahmen sowie gestiegener Energie- und Rohstoffpreise so hoch ist und erst einmal bleibt.
Entsprechend dürfte sich auch der Leitzins in den kommenden Jahren entwickeln: Unter 2,5 Prozent wird er so bald nicht mehr fallen, die EZB hat ihn zuletzt Mitte März auf 3,5 Prozent angehoben. Frühestens in diesem Sommer ist mit einem Ende des geldpolitischen Straffens zu rechnen, wenngleich die Energiepreise sowie die Nahrungsmittel- und Dienstleistungspreise nachgeben sollten. Wie auch in der herausfordernden Corona-Pandemie unterstützen wir als Fachbank unsere Kunden aus den Branchen Soziales, Gesundheit und Bildung bei der Bewältigung der aktuellen Krise.“
Einhergehend mit sich rasch wandelnden Versorgungs- und Finanzierungsstrukturen sieht sich das Sozial- und Gesundheitssystem in Deutschland wachsenden Herausforderungen gegenüber. Wie begegnet Ihr Institut als langfristige Partnerin der freigemeinnützigen Sozialwirtschaft diesen Herausforderungen? Wo sehen Sie die Chancen? „Das Sozial- und Gesundheitswesen ist einem ständigen Wandel unterworfen. Das zeigt sich deutlich in unserer einhundertjährigen Geschichte – Seite an Seite mit den Wohlfahrtsverbänden. Wir begegnen den Herausforderungen, indem wir den Organisationen, die sich für soziale Belange und die Gesundheit der Menschen einsetzen, mit Finanzierungsmitteln und Beratungsleistungen zur Seite stehen. Eine robuste soziale Infrastruktur trägt dazu bei, dass wir als Gesellschaft mit Krisen und Nöten umgehen können.
Als Sozialbank ist es für uns entscheidend, zukunftssichere Projekte zu identifizieren, die sich langfristig tragen. Wir wollen möglichst gut vorhersehen, welche Versorgungsstrukturen künftig nachgefragt und von den Kostenträgern refinanziert werden. Zu diesem Zweck haben wir schon Ende der 90er Jahre ein sozialwirtschaftliches Research aufgebaut, das die Entwicklungen in der Freien Wohlfahrtspflege und in der Sozialwirtschaft insgesamt systematisch verfolgt. Hier sehen wir viele Chancen.
Um ein Beispiel herauszugreifen: Die meisten Menschen wollen auch mit Unterstützungsbedarf in ihrem gewohnten Umfeld bleiben und in der häuslichen Umgebung versorgt werden. Dementsprechend wandeln sich die Versorgungsstrukturen hin zu mehr ambulanten Angeboten. Die Politik steuert dies über die Finanzierung und rechtliche Vorgaben. Für das Betreute Wohnen und ambulant betreute Wohngemeinschaften haben wir schon frühzeitig die Chancen gesehen, die sich Anbietern der Altenhilfe durch neue Versorgungsformen eröffnen.
Aktuell erscheint unsere viel beachtete Publikationsreihe zum Thema ´Erfolgsfaktor Nachhaltigkeit in der Sozialwirtschaft`. Uns wird es immer darum gehen, zukünftige Herausforderungen der Sozial- und Gesundheitswirtschaft aufzuzeigen und Impulse zu geben, wie diese gelöst werden können.“
Prof. Dr. Harald Schmitz (geb. 1964) ist seit 2014 Vorsitzender des Vorstandes der Bank für Sozialwirtschaft AG. Zuvor war er in verschiedenen leitenden Positionen in der Gesundheitswirtschaft und in Beratungsgesellschaften tätig. Er ist Mitglied in mehreren Aufsichtsgremien und Organen von gemeinnützigen Trägergesellschaften der freien Wohlfahrtspflege und Honorarprofessor an der Universität zu Köln, Seminar für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Management im Gesundheitswesen. Er ist verheiratet und hat drei Kinder.
Die Bank für Sozialwirtschaft ist das einzige Kreditinstitut in Deutschland, das sich ausschließlich an Unternehmen und Organisationen aus der Sozial- und Gesundheitswirtschaft richtet. Sie wurde 1923 von den Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege – darunter auch die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland – in Berlin gegründet. Die Wohlfahrtsverbände und deren Mitgliedseinrichtungen sind bis heute die Hauptanteilseigner der Bank.
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