Im Gespräch mit S.E. Steffen Seibert, Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Israel

Sehr geehrter Herr Botschafter Seibert, am 12. Mai 1965 vereinbarten Bundeskanzler Ludwig Erhard und der israelische Ministerpräsident Levi Eschkol die Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Welche Bilanz ziehen Sie anlässlich dieses 60jährigen Jubiläums? "Diese deutsch-israelische Freundschaft lebt, sie entwickelt sich jeden Tag, sie reflektiert natürlich auch immer die aktuellen Geschehnisse. Eine Bilanz kann also stets nur eine vorläufige sein. Klar ist: Diese Beziehungen, die förmlich begannen und seitdem viel an Wärme gewonnen haben, waren nach den Verbrechen der Shoah alles andere als selbstverständlich. Unser Verhältnis zu Israel ist etwas sehr wertvolles, eine zweite Chance der Geschichte. Und es ist glücklicherweise nicht nur das Verhältnis zwischen Regierungen, sondern eines, das auf den Schultern von Millionen von Menschen auf beiden Seiten ruht. Die vielen Städtepartnerschaften, die Freiwilligen, die regelmäßig nach Israel reisen, der Schüleraustausch in beide Richtungen, die Zusammenarbeit unserer Wissenschaftler – das alles sind gelebte Beziehungen, aus denen wahre Freundschaft entstehen kann.
Leider ist dieses Jubiläumsjahr keines, das zum ausgelassenen Feiern einlädt. Es sind schwierige Zeiten. Israel ist im Krieg, was selbst Bundespräsident Steinmeier während seiner Reise im Mai hautnah miterlebte: Mehrfach ertönten die Sirenen und wir mussten den nächsten Luftschutzraum aufsuchen. Die tiefen Wunden des Terrorangriffs der Hamas am 7. Oktober sind noch offen. Noch immer halten die Terroristen zahlreiche Geiseln in ihren Tunneln, unter ihnen auch deutsche Staatsbürger. Die palästinensische Zivilbevölkerung in Gaza erleidet in diesem Krieg Entsetzliches und das seit 20 Monaten. Das alles wirft zwischen uns und unseren israelischen Freunden schwierige Fragen auf: Wann ist der Krieg zu Ende? Wann kommt es zu einem Abkommen, das die Geiseln befreit? Wann bekommen die Menschen in Gaza endlich menschenwürdige Bedingungen?"
Sie sind nun seit dem Jahr 2022 Deutscher Botschafter in Israel. Welche Erlebnisse und Begegnungen haben Sie in dieser Zeit besonders geprägt? "Es war auch vor dem 7. Oktober 2023 schon eine intensive und immer wieder friedlose Zeit. Gleich im Sommer 2022 erlebten wir einen kurzen Krieg zwischen Israel und dem Palästinensischen Islamischen Dschihad in Gaza. Damals war es das erste Mal für mich, Sirenen zu hören und Schutzräume aufzusuchen. Doch der 7. Oktober, das vorher für mich unvorstellbare Ausmaß der Grausamkeit, der blinde Hass, der auch vor Kindern nicht Halt machte – das veränderte alles. Nie werde ich vergessen, wie mich am Morgen des 8. Oktober ein mir damals unbekannter Mann unter Tränen anrief: Sein Vater, ein deutscher Staatsbürger, sei aus seinem Kibbuz nach Gaza verschleppt worden. Seitdem ist der Umgang mit den Angehörigen der Geiseln, der Kampf für die Freilassung ihrer Liebsten, ein wichtiger Teil meiner Arbeit hier. Der 7. Oktober war eine Zäsur, es gibt ein Davor und ein Danach."
Wie hat sich die diplomatische Arbeit seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 verändert? "Ich sehe meine Arbeit als Deutscher Botschafter nicht nur darin, Reden zu halten, Politiker zu treffen und darüber Berichte nach Berlin zu schicken. Das alles ist wichtig, aber es geht doch auch um etwas anderes: Die Menschen in Israel haben auch ein Recht darauf, zu hören, wo Deutschland steht, welche Positionen und Werte wir vertreten. Deswegen ist mir all das, was man unter dem Begriff der 'öffentlichen Diplomatie' versteht, wichtig. Ich versuche mich so viel es geht, unter den Menschen zu bewegen. Israel ist ein Mosaik aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen: Juden, säkulare wie ultraorthodoxe, Muslime, Christen, Drusen. 21 % der Bürger hier sind Araber, viele sprechen von sich selbst als Palästinenser. Ich versuche, mit all diesen Gruppen im Gespräch zu sein und zu verstehen, was ihr Bild von der Gegenwart und Zukunft dieses Landes ist.
Und wie gesagt, das Schicksal der entführten Geiseln, die unter unmenschlichen Bedingungen seit 600 Tagen in Gaza gefangen sind, beschäftigt mich und unsere ganze Botschaft sehr. Ich war schon auf viel zu vielen Beerdigungen und Trauerfeiern, aber ich hatte ein paar Mal auch das unbeschreibliche Glück, freigekommene Geiseln zu treffen und zu sehen, wie sie langsam wieder ins Leben zurückkommen. Als Botschaft haben wir in diesen langen 20 Monaten die Familien gut kennengelernt und nach Kräften unterstützt. Das sind Menschen, deren Kraft und Energie ich unendlich bewundere.
Mein großer Wunsch ist, dass alle 58 Geiseln so schnell wie möglich nach Israel zurückkehren. Das gilt sowohl für die noch lebenden, als auch die ermordeten Geiseln. Bis dahin bleibt ihr Schicksal eine offene Wunde - ein dunkler Schatten, der über diesem Jahr liegt. Der Blick nach vorne wird dann möglich sein, wenn alle wieder zuhause sind."
Welche Rolle spielt Deutschland aus Ihrer Sicht im Rahmen der aktuellen Konflikte mit der Hamas, der Hizbollah und den Huthis? "Nach dem 7. Oktober war für Deutschland klar: Unser Platz ist fest an der Seite des angegriffenen Israels. Das hat der damalige Bundeskanzler Scholz schon bei seinem Besuch im Oktober 2023 und auch der neue Außenminister Wadephul jetzt bei seinem Antrittsbesuch im Mai 2025 deutlich gemacht. Wir unterstützten Israels Recht auf Selbstverteidigung gegen die Hamas und werden das auch weiter tun. Von Hamas darf nie wieder diese Gefahr für Israel ausgehen. Gleichzeitig schauen wir aber auch mit tiefer Sorge auf die humanitäre Situation und das Leid der Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen. Wir wissen, dass eine politische Lösung kommen muss – und dass für diese die Weichen jetzt gestellt werden müssen. In dieser Region leben zwei Völker, das jüdische und das palästinensische. Beide haben das Recht hier zu leben, beide haben geschichtliche Wurzeln hier und ein starkes Heimatgefühl. Beide werden hier bleiben und daher kann es eine dauerhaft sichere Zukunft nur im friedlichen Nebeneinander zweier Staaten geben.
Das deutsch-israelische Verhältnis zeigt wie kein anderes, dass aus Trümmern Neues erwachsen kann. Ich bin fest überzeugt, dass es diese Zuversicht nach dem 7. Oktober mehr denn je braucht. Zuversicht und politischen Mut auf beiden Seiten."
Inwiefern beeinflussen innenpolitische Entwicklungen in Deutschland, insbesondere im Hinblick auf einen spürbar zugenommenen Antisemitismus, Ihre Arbeit in Israel? "Der Anstieg des Antisemitismus in der Welt beunruhigt mich sehr. Gerade war ich auf der Beerdigung von Yaron Lishinsky, eines jungen Mitarbeiters der israelischen Botschaft, der in Washington gemeinsam mit seiner Partnerin ermordet wurde. Aus einem einzigen Grund: Weil er ein Israeli war, weil der Täter in ihm einen Juden sah.
So erschütternd wie die Tat ist es für mich, Kommentare im Netz zu lesen, die Verständnis für den Täter aufbringen und in seiner Tat eine akzeptable Reaktion auf den Gazakrieg sehen. Solchem Denken dürfen wir keine Handbreit Raum geben. Diese Linie müssen wir ganz klar ziehen. Kritik an der Politik einer israelischen Regierung ist selbstverständlich zulässig, Gewalt gegen Israelis oder Juden und deren Einrichtungen ist immer und grundsätzlich streng zu verurteilen.
Es schmerzt mich, zu sehen, wie israelische Freunde in bestimmten Gegenden Deutschlands oder bestimmten Situationen jüdische Symbole lieber nicht offen tragen oder sich nicht auf Hebräisch unterhalten. Daran dürfen wir uns nie gewöhnen. Die Bundesregierung tut alles, um jüdisches Leben in Deutschland besser zu schützen, indem zum Beispiel antisemitische Straftaten konsequenter verfolgt und bestraft werden, das Budget für die Sicherheit jüdischer Einrichtungen erhöht und auch die Betätigung des internationalen Netzwerks 'Samidoun' und der Jugendorganisation 'Hirak' in Deutschland verboten wurde, die unter dem Deckmantel einer 'Solidaritätsorganisation' israel- und judenfeindliche Propaganda verbreitet haben. Auch in der Bildung werden neue Schulprogramme gegen Antisemitismus und Diskriminierung umgesetzt und Lehrpläne erweitert. An den Schulen anzusetzen ist entscheidend wichtig, damit Kinder und Jugendliche schon früh antisemitische Narrative als solche erkennen und ablehnen können."
Wie kann der Deutsch-Israelische Freiwilligendienst weiterhin zu Stärkung der deutsch-israelischen Beziehungen auf zivilgesellschaftlicher Ebene beitragen? "Freiwilligendienst ist gelebte Freundschaft, wobei der Kontakt zum Land und den Menschen oft länger hält als der Dienst an sich, in manchen Fällen gar ein Leben lang. Freiwillige sammeln Erfahrungen, die sie nachhaltig prägen und inspirieren. Sie werden zu echten Botschaftern der deutsch-israelischen Freundschaft.
Die Freiwilligen leisten eine wichtige gesellschaftliche Arbeit in Israel, die sehr wertgeschätzt wird. Egal, ob in der Betreuung von Menschen mit Behinderungen, in der Jugendarbeit, im Bildungsbereich oder in Projekten zur Erinnerungskultur – ihr Engagement ist konkret und spürbar. Es ist ein wichtiger Beitrag zum interkulturellen Dialog: Perspektiven werden diskutiert und man lernt voneinander, was Bewusstsein für Gemeinsamkeiten und Unterschiede schärft und uns lehrt, respektvoll miteinander umzugehen. Ich bin froh, dass Freiwillige wieder ins Land kommen können und freue mich über jeden, der hier im Land freiwillig etwas Gutes bewirken möchte."
Welche Aufgaben sollte das geplante Deutsch-Israelische Jugendwerk in Zukunft haben? "Wie wichtig der Jugendaustausch ist, zeigt sich gerade im Jubiläumsjahr immer wieder: Jugendliche aus Deutschland und Israel zusammenzubringen schafft die Basis für langfristige, nachhaltige Beziehungen zwischen unseren Ländern – auch jenseits der Politik. Das geplante Deutsch-Israelische Jugendwerk soll den bestehenden, regen Austausch zwischen beiden Ländern stärken und die vorhandenen Strukturen des schulischen und außerschulischen Jugendaustauschs unter einem Dach bündeln. Wir wollen so zum einen die Prozesse für alle Beteiligten vereinfachen, bündeln und intensivieren – aber mit diesem gemeinsamen deutsch-israelischen Projekt auch ein wichtiges symbolisches Signal senden, welchen besonderen Stellenwert die guten Beziehungen unserer beiden Länder heute für beide Seiten hat."
Wir bedanken uns herzlich für dieses Gespräch !