Förderung der Teilhabe mit Unterstützung digitaler Medien
Irina Rosensaft und Mattan Kapon im Gespräch
Liebe Irina, lieber Mattan, der Fachbereich Mabat wirkt durch viele eigene Angebote, aber auch durch die Abteilungen der ZWST. Mabat bringt z.B. Trainer:innen zu den Sommermachanot, um die „Digital Literacy“ der jungen Generation zu fördern. Es wurden Trainings für Senior:innen im Frankfurter Treffpunkt für Überlebende der Shoah durchgeführt. Im Rahmen vieler Seminare, z.B. im Rahmen von 18+ für junge Erwachsene oder für Sozialarbeiter:innen ist das Anliegen von Mabat elementarer Bestandteil des Fortbildungsprogramms. Was ist das Ziel dabei?
Irina: „Digitalisierung betrifft jeden Lebensbereich. Sie ist ein Querschnittsthema, d.h. dass jeder Fachbereich - sei es Jugend oder Soziales - auch eine digitale Facette bekommt. Manche digitalen Themen sind fachübergreifend, wie z.B. Medienkompetenz, andere wiederum fachspezifisch wie z.B. Tools für die Beratung in der sozialen Arbeit oder digitale Helfer in der Arbeit mit Senior:innen. Die Fachabteilungen haben häufig weder die Ressourcen noch die Kompetenzen, um ihre digitalen Facetten und die Innovationen zu erschließen. Daher ist es wichtig, dass Mabat hier als Kompetenzträger auftritt und gemeinsamen mit den Fachabteilungen diese neuen Prozesse und Themen implementiert. Ressourcen zu bündeln und Synergien zu schaffen führt zu einer Optimierung der Angebote. Unsere Zusammenarbeit mit dem Inklusionsfachbereich Gesher ist ein anschauliches Beispiel für diesen Synergieeffekt.“
Könnt ihr diese Kooperation näher erläutern?
Mattan: „Im letzten Jahr haben wir eine digitale Plattform in Form einer App für Menschen mit Behinderung konzipiert. Diese soll zur besseren Vernetzung innerhalb der Zielgruppe beitragen. Der Fokus richtet sich unter anderem auf Barrierefreiheit und Partizipation, damit möglichst alle Betroffenen und Angehörigen an Aktivitäten auf der Plattform teilhaben können. Im Rahmen der Betreuungsfreizeit im Kurheim Beni Bloch im Mai 2023 haben wir die App ausgerollt und den Familien und Betreuenden vorgestellt. Gemeinsam mit den Teilnehmenden haben wir die Bedienung der App getestet, damit sich vor allem die Menschen mit Inklusionsbedarf mit der App und ihren Funktionen vertraut machen konnten.“
In welcher Hinsicht können digitale Medien und Tools die Teilhabe vulnerabler Zielgruppen verbessern und voranbringen, speziell die Zielgruppen des Fachbereiches Gesher?
Irina: „Digitale Technologien können auf unterschiedliche Weise helfen. Sie können dazu beitragen, dass Menschen besser in den Alltag integriert sind, selbständig agieren und an gesellschaftlichen Prozessen teilhaben. Digitalisierung - sofern sie von Institutionen mit ihren vielfältigen Möglichkeiten genutzt wird - kann dazu führen, dass gesellschaftliche Barrieren abgebaut und mehr Transparenz geschaffen wird. Je nach Zielgruppe können beispielsweise sprachliche, sozio-ökonomische oder auch gesundheitliche Barrieren überwunden werden.“
Könnt ihr konkrete Beispiele beschreiben?
Irina: „Nehmen wir eine 80jährige, alleinstehende und zugewanderte Frau in Deutschland, die Familie in Israel hat. Mithilfe von Messengern kann sie jederzeit mit ihren Freunden und Familie in Kontakt treten. Über die Übersetzungstools auf ihrem mobilen Telefon kann sie Texte (Briefe der Gemeinde, der Ämter, der Ärzte etc.) selbstständig übersetzen. Außerdem könnte sie ihre Gesundheitswerte ihrem Arzt oder ihren Notfallkontakten übermitteln. Sie könnte Fotos austauschen und Bridge mit ihren Freunden in anderen Ländern spielen, Zeitungsartikel in allen möglichen Sprachen lesen oder sich von einer digitalen Assistenz vorlesen lassen. Für diverse Herausforderungen des Alltags gibt es passende digitale Lösungen, die den Alltag erleichtern und Selbständigkeit fördern. Manche Lösungen können sogar Leben retten.“
Welche Rolle spielen die kontinuierlich durchgeführten digitalen Trainings in diesem Zusammenhang für haupt- und ehrenamtliche Multiplikator:innen, wie z.B. zum Thema Barrierefreiheit Anfang Juni?
Irina: „Die technologischen Möglichkeiten sind da und entwickeln sich dynamisch weiter. Leider sind viele Institutionen noch nicht so weit, diese umzusetzen. Mit den praxisnahen Trainings will der Fachbereich für Digitale Transformation den digitalen Reifegrad der jüdischen Gemeinden steigern und die Mitarbeitenden befähigen, digitale Tools in ihrer Arbeit einzubeziehen.“
Könnte man ähnliche Trainings auch direkt für Menschen mit einer Einschränkung anbieten?
Irina: „Das ist unser Ziel. Wir sind der festen Überzeugung, dass digitale Technologie entlasten und wie ein Assistent und verbindendes Element wirken kann. Physische Einschränkungen lassen sich abmildern, Erlebnisse in Form von Musik und Kunst sind dann plötzlich ganz nah, aber auch Vernetzung und Kontakt zu vertrauten Personen.“
Was sind aus eurer Perspektive Haupt-Hindernisse für die Beförderung der Teilhabe mithilfe digitaler Tools und Medien?
Mattan: „Eines dieser Hindernisse ist der Mangel an Ressourcen und Kompetenzen in vielen Fachabteilungen und Institutionen. Oft fehlt es an den finanziellen Mitteln und dem Know-how, um digitale Innovationen wahrzunehmen und umzusetzen. Dadurch bleiben digitale Möglichkeiten und neue Technologien ungenutzt. Wie Irina eingangs schon betont hat: Interdisziplinäre Zusammenarbeit und der Austausch von Wissen und Ressourcen sind unerlässlich, um digitale Teilhabe zu gestalten. Zudem stellen fehlende Barrierefreiheit und Partizipation ein weiteres Hindernis bar. Bei der Entwicklung digitaler Plattformen und Tools muss besonderes Augenmerk auf Barrierefreiheit gelegt werden, um sicherzustellen, dass Menschen mit einer Einschränkung sie nutzen können. Sprachliche, sozio-ökonomische und physische Barrieren müssen überwunden werden, um eine umfassende Teilhabe zu ermöglichen.“
Wo seht ihr Gefahren der rasant fortschreitenden Digitalisierung, vor allem für vulnerable Zielgruppen?
Mattan: „Eine zentrales Risiko liegt in der digitalen Kluft, die entsteht, wenn nicht alle Menschen gleichermaßen Zugang zu digitalen Tools und Technologien haben. Dadurch werden bestimmte Gruppen benachteiligt und auch ausgrenzt. Ein weiteres Problem besteht in der potenziellen Verletzung der Privatsphäre und dem Missbrauch persönlicher Daten, insbesondere bei Menschen mit eingeschränkten digitalen Fähigkeiten, die anfälliger für Fehlinformationen und digitale Kriminalität sind. Es ist von entscheidender Bedeutung, Maßnahmen zu ergreifen, um diese Risiken zu begrenzen und sicherzustellen, dass vulnerable Zielgruppen angemessen geschützt sind.“
Irina: „Schutz beginnt auch dann, wenn Menschen den richtigen Umgang mit digitalen Tools erlernen, um zum einen keine Sucht zu entwickeln, zum anderen kein Opfer von Cyberkriminalität oder von Desinformation zu werden. Daher ist es uns wichtig, einen sicheren und selbstbewussten Umgang mit digitalen Medien zu vermitteln sowie auch Wege zu Resilienz aufzuzeigen.“
Wie würdet ihr euren „größten Traum“ im Rahmen eurer Arbeit beschreiben?
Irina: „Unsere Vision ist es, die digitale Kluft für die Menschen in den jüdischen Gemeinden zu reduzieren, Chancengleichheit und gesellschaftliche Teilhabe zu fördern. Wir wollen die Menschen dazu befähigen, die Vorteile digitaler Technologien zu nutzen sowie herausfordernde Lebenssituationen durch den Einsatz von digitalen Tools besser zu meistern.“
Mattan: „Unser Ziel ist es, Technologien einzusetzen, um die Lebensqualität zu steigern, soziale Isolation zu verringern und die Selbstbestimmung und Teilhabe für jeden Einzelnen zu fördern. Wir arbeiten darauf hin, digitale Technologien als Instrumente einzusetzen, um individuelle Bedürfnisse zu unterstützen, die jüdische Gemeinschaft zu stärken und Menschen zu verbinden.“
Irina Rosensaft, Leiterin des Fachbereichs Digitale Transformation („Mabat“), Mattan Kapon (Projektkoordinator Digitale Transformation), HvB, ZWST Öffentlichkeitsarbeit