ZWST Interview - Im Gespräch mit Michael Groß, Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW), Vorsitzender der Arbeiterwohlfahrt (AWO)
Sehr geehrter Herr Groß, neben Ihrem Vorsitz des Präsidiums der AWO sind Sie seit Beginn des Jahres 2023 Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW). Als Einstieg wollen wir von Ihnen wissen - mit der Bitte um eine spontane Antwort: Was liegt Ihnen in dieser Funktion ganz persönlich am Herzen? „Es ist für mich in meiner Funktion eine sehr große Motivation, exponiert für die Menschen einzutreten, die unsere Unterstützung, Beratung und Begleitung brauchen. Unsere vielen ehrenamtlich Engagierten und hauptamtlich Beschäftigten leisten in den Lebenswelten der Menschen hervorragende Arbeit und sind inzwischen oft hoch- oder überbelastet. Gemeinsam im Konzert der Verbände müssen wir dafür kämpfen, die Rahmenbedingungen zu verbessern und gute Arbeit im sozialen Bereich in den Vordergrund zu rücken.“
Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege sind eine tragende Säule des Sozialstaates in Deutschland. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der deutsche Gesundheits- und Sozialsektor von vielen anderen Ländern, wo viele dieser Bereiche privatisiert sind. Wie bewerten Sie diese besondere Stellung der Wohlfahrtsverbände in Deutschland? „Sie haben recht – das System der freien Wohlfahrtspflege ist eine Besonderheit. Sie hat aber keine überholte Tradition, die es durch Privatisierung und Ökonomisierung zu modernisieren gilt. Im Gegenteil, wir sind auf der Höhe der Zeit: Wir ermöglichen Teilhabe und menschenwürdiges Leben – ohne damit Gewinn und Renditen erzielen zu müssen. Damit halten wir die Gesellschaft zusammen. Im Übrigen zeigen Erhebungen sehr deutlich, dass dieses Modell funktioniert: In Pflegeeinrichtungen ist die Qualität in den Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege höher als in vielen privatwirtschaftlich organisierten Betrieben.“
Der aktuelle Bundeshaushaltsentwurf 2024 sieht tiefgreifende Kürzungen vor, die die Freie Wohlfahrtspflege mit 25 % treffen würden und die betonte ‚Säule‘ würde brüchig werden – bis hin zu kompletten Programmstreichungen. Könnten Sie an 3 Beispielen die Auswirkungen dieser Kürzungen veranschaulichen – wenn sie denn in der geplanten Form umgesetzt würden? „Der aktuelle Bundeshaushalt ist eine Katastrophe, nicht nur für die Verbände der BAGFW. Als ehemaliger Haushaltspolitiker im Bundestag bin ich über die gesetzten Prioritäten entsetzt. Ein zukunftsorientierter, den gesellschaftlichen Zusammenhalt gestaltender Bundeshaushalt sieht anders aus. Er hat in dieser Form Auswirkungen bis in die soziale Infrastruktur der Quartiere in den Städten und Gemeinden, dort wo Investitionen und finanzielle Planungssicherheit für Angebote der sozialen Arbeit besonders notwendig sind.
Zum Beispiel sind für mich die Kürzungen im Bereich der Migrationsberatung für erwachsene Zugewanderte nicht nachvollziehbar. Wir sind inmitten großer Fluchtbewegungen – allein aus der Ukraine sind etwa 1,2 Mio Geflüchtete zu uns gekommen. Durch weltweite Verwerfungen und Folgen von Krieg, Hunger und Klimawandel ist auch nicht von sinkenden Zahlen auszugehen. Hier gut funktionierende, hochwertige Angebote zu streichen, ist sozial- und gesellschaftspolitisch gefährlich und paradox: Wir sprechen von Fachkräftemangel, sparen aber bei Einrichtungen, die auch bei der Integration in den Arbeitsmarkt eine Stütze sein können.
Die starken Kürzungen im Bereich der Freiwilligendienste sind ein weiteres Beispiel für die Kurzsichtigkeit des Entwurfs. Aus der Politik kommt immer wieder der Ruf nach mehr Engagement, auch ein Pflichtdienst wird wieder ins Gespräch gebracht – und nun soll hier gespart werden? Wir müssen davon ausgehen, dass ca. 30.000 Freiwillige – jeder vierte! – wegfallen wird. Das wird weitreichende Auswirkungen haben – nicht nur für den einzelnen, der um wichtige Erfahrungen beraubt wird, sondern auch bei Pflegeeinrichtungen, Kitas und vielen weiteren Einsatzstätten, die auf das Engagement der Personen im FSJ oder BFD bauen.
„Die ehrenamtlich Engagierten und hauptamtlich Beschäftigten der Freien Wohlfahrtspflege halten unsere Gesellschaft am Laufen. Wir wollen keine Einrichtungen schließen müssen, wollen niemanden abweisen. Eine Politik, die das zulässt, ist keine, die den Menschen in unserem Land eine sozial gerechte Zukunft mit gleichen Chancen ermöglicht und mit ihnen respektvoll umgeht.“ -Michael Groß
Sozialpolitisch ist die fehlende Verbesserung der Pflege mit Mitteln aus dem Bundeshaushalt massiv zu kritisieren. Die im Koalitionsvertrag avisierten, aber ausbleibenden Milliarden für die Rentenbeiträge der Pflegenden, die Kompensation der schwierigen ‚Coronajahre‘ oder die fehlende Entscheidung, endlich die Eigenbeiträge der zu Pflegenden zu deckeln, sind eine zusätzliche Belastung für die Träger in den Einrichtungen der Wohlfahrtspflege, aber auch und insbesondere für die zu Pflegenden. - Und nicht zuletzt werden auch die Verbände auf Bundesebene massiv einsparen müssen. Die BAGFW-Verbände sind selbst von der Kürzung der Etats betroffen. Viele wichtigen Angebote, die die Verbände gerade erst entwickelt haben, fallen nun dem Spardiktat zum Opfer. Nachhaltige Finanzpolitik geht anders.“
Haushaltspolitische Einschnitte sind vor dem Hintergrund der aktuellen, volkswirtschaftlichen Situation infolge des Krieges und Erfordernissen aufgrund des akuten Klimawandels nicht zu umgehen. Was würden Sie als alternatives Finanzierungsmodell vorschlagen – neben einer rein quantitativen Abmilderung der Kürzungen? „Hier widerspreche ich. Die haushaltspolitischen Einschnitte sind keinesfalls alternativlos. Sie sind das Ergebnis eines fast fetischhaften Festhaltens an der sog. ‚Schwarzen Null‘, die volkswirtschaftlich keinen Sinn ergibt, erst recht nicht in einer Zeit wie dieser. Gerade jetzt muss der Staat investieren und die Zivilgesellschaft stärken. Durch den jetzigen Haushaltsentwurf erleben wir eine Umverteilung von unten nach oben. Das Aufstiegsversprechen wird nicht mehr eingelöst, die soziale Mobilität in der Gesellschaft ist nicht mehr gegeben. In vielen Stadtteilen und Alltagswelten ist der soziale Kipppunkt erreicht oder bereits überschritten. Gerade jetzt ist es aufgrund dieser großen Herausforderungen notwendig, eine progressivere Besteuerung höchster Einkommen und Vermögen durchzusetzen und die schwarze Null als Haushaltsziel auszusetzen.“
Krisen wie die Corona-Pandemie haben extremen Bewegungen und Verschwörungstheorien erheblichen Aufwind verschafft. Auch die AfD punktet in diesen schwierigen Zeiten mit einfachen Lösungen und stellt in Thüringen den ersten rechtsextremen Landrat. Wo sehen Sie die Gefahren für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, wenn tiefgreifende sozialpolitische Einschnitte ab 2024 Realität werden würden? „Die Gesellschaft wird weiter auseinanderdriften – und die, die es schon schwer haben, werden am meisten darunter leiden. Wenn wir bei unseren Kindern und Jugendlichen sowie der Integration sparen, befürchte ich, dass Ressentiments gegen Geflüchtete und nicht-deutsch gesehene Personen zunehmen werden. Das Sparen bei politischer Bildung ist eine ernsthafte Gefahr für unsere Demokratie. Viele junge und finanziell benachteiligte Menschen fühlen sich politisch übergangen, in politische Entscheidungen nicht eingebunden. Das können wir nicht hinnehmen. Die ehrenamtlich Engagierten und hauptamtlich Beschäftigten der Freien Wohlfahrtspflege halten unsere Gesellschaft am Laufen. Wir wollen keine Einrichtungen schließen müssen, wollen niemanden abweisen. Eine Politik, die das so zulässt, ist keine, die den Menschen in unserem Land eine sozial gerechte Zukunft mit gleichen Chancen ermöglicht und mit ihnen respektvoll umgeht.“
Vielen Dank für das Gespräch !
HvB, ZWST