Im Gespräch mit Katharina von Schnurbein, Antisemitismusbeauftragte der Europäischen Kommission
Sehr geehrte Frau von Schnurbein, antisemitische Tendenzen, Hate-Speech im Web bis hin zu direkten Übergriffen haben nach dem Simchat-Torah-Massaker am 7. Oktober massiv zugenommen. Wenn auch von den Medien und einer breiten Öffentlichkeit oftmals als ein „neues und plötzlich auftretendes Phänomen“ wahrgenommen und beschrieben – Antisemitismus war schon vor diesem einschneidenden Datum nicht nur ein Randphänomen, sondern strukturell verankert. Was können Sie als Antisemitismusbeauftragte auf EU-Ebene tun, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken? „Die Strategie der EU zur Bekämpfung von Antisemitismus und zur Förderung jüdischen Lebens formuliert ein klares Ziel. Wir wollen alle Formen von Antisemitismus verhüten und bekämpfen und jüdisches Leben in seiner ganzen Vielfalt fördern. Nur so kann der Weg für eine EU ohne Antisemitismus geebnet werden. In vielen Mitgliedstaaten wurden entsprechende Strukturen geschaffen. Beispielsweise haben wir Trainingsprogramme für Staatsanwaltschaften und Polizeikräfte zum Thema Antisemitismus initiiert. Im Bereich Bildung ist gemeinsam mit der UNESCO und der OSZE das Programm 'Combating Antisemitism through Education' ins Leben gerufen worden. Es soll den Mitgliedstaaten geeignete Maßnahmen vermitteln, um ihre Antisemitismus-Strategien im Bereich Bildung umsetzen zu können. Das Ziel muss sein, dies in der Zivilgesellschaft zu verankern.“
Im April 2024 wurde das „European Network on Monitoring Antisemitism (ENMA)“ ins Leben gerufen. Wie kam diese Gründung zustande, wie ist das Netzwerk organisiert und was kann es konkret bewirken? „Um den Antisemitismus bekämpfen zu können, müssen wir ihn sichtbar machen und das Ausmaß begreifen. Das ENMA kann hierzu einen wertvollen Beitrag leisten. Das Netzwerk wurde als Zusammenschluss zivilgesellschaftlicher Organisationen aus Deutschland, Österreich und Polen gegründet. Es soll insbesondere die Dokumentationsmethodiken vereinheitlichen. Darüber hinaus kann ENMA auch als Brücke zwischen staatlichen Institutionen und Opfern antisemitischer Vorfälle dienen und einen niedrigschwelligen Austausch gewährleisten. Wir können diese wichtige Arbeit aber nicht allein NGOs überlassen. Deshalb haben wir den sogenannten 'Vienna Process' angestoßen, um auch auf staatlicher Ebene in Europa die qualitative und quantitative Datenerhebung zu vereinheitlichen. Vierzehn Mitgliedstaaten sind der Vienna Declaration bereits beigetreten. Dabei geht es auch um die Dokumentierung solcher Vorfälle, die nicht unbedingt strafrechtliche Relevanz haben, aber im Sinne der IHRA-Arbeitsdefinition antisemitisch sind. Denn solche Vorfälle tragen zu einem vergifteten öffentlichen Klima bei und führen letztlich dazu, dass sich Juden aus dem öffentlichen Leben zurückziehen. Als Sofortmaßnahme wäre es notwendig, dass jede Institution – z.B. Universitäten und Schulen, aber auch Parteien, Unternehmen und Kirchen – einen Leitfaden entwirft, der bei antisemitischen Vorfällen konkrete Maßnahmen vorsieht. Grundlage dafür müsste wiederum die IHRA-Arbeitsdefinition sein. Ähnlich wie beim Brandschutz müssen konkrete Schritte feststehen, um richtig auf antisemitische Vorfälle reagieren zu können.“
Wie würden Sie die Situation von jüdischen Gemeinden im europäischen Vergleich einschätzen? Wie ist Deutschland in Bezug auf die Bekämpfung von Antisemitismus im Vergleich zu anderen Ländern aufgestellt? „Das politische Bewusstsein für das Thema Antisemitismus ist in Europa in den vergangenen Jahren überall gestiegen. Das hat mit unserer EU Strategie zu tun und damit, dass alle Mitgliedstaaten nationale Strategien vorlegen sollen. Aber leider hat es auch mit dem gestiegenen Antisemitismus zu tun. Als Deutsche würde ich sagen, dass Deutschland wegen seiner Geschichte eine größere Verantwortung als andere Länder hat. Das gilt aber nicht nur für die Bundesregierung, die ja Ende 2022 die 'Nationale Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben' beschlossen hat. Auch die deutsche Gesellschaft hat die Pflicht, dem Antisemitismus und dem Hass zu widerstehen. Doch leider haben wir in Deutschland wie überall in Europa das höchste Niveau von Antisemitismus seit der Shoah – eine Gefahr für jüdisches Leben und für die Demokratie und Sicherheit in Europa insgesamt. Jüdische Gemeinden sind im allgemeinen resilient, aber was im Moment passiert, geht an die Substanz. Dem müssen wir als Gesamtgesellschaft entgegenwirken.“
Man kann davon ausgehen, dass viele Jüdinnen und Juden europaweit die Entscheidungen und Vorgehensweisen der politischen Führung in Israel mit Skepsis betrachten, nicht zuletzt die israelische Gesellschaft selbst. Demonstrationen gab es schon vor dem 7. Oktober in Israel und sie gibt es weiterhin, das Land ist gespalten. Wie erklären Sie dagegen den ausufernden, israelbezogenen Judenhass, der - weit entfernt von einer sachlichen Kritik - alle Jüdinnen und Juden trifft und mit Slogans wie „from-the-river-to-the-sea“ aufmarschiert? Inwiefern hätte man diese Ausprägung des Antisemitismus bereits früher erkennen und dagegen vorgehen können? „Zunächst muss man sagen, dass es völlig inakzeptabel ist, weil antisemitisch, Jüdinnen und Juden kollektiv für das Handeln des Staates Israels verantwortlich zu machen. Ebenso ist es antisemitisch, dem jüdischen Volk sein Recht auf Selbstbestimmung abzuerkennen. 'From-the-river-to-the-Sea' geht darüber ja noch hinaus! Diese Beispiele sind nicht zufällig Teil der IHRA Definition. Als sie 2005 von dem EU Monitoring Center erarbeitet wurde, war israelbezogener Antisemitismus bereits ein wachsendes Problem. Anti-Zionismus und israelbezogener Antisemitismus sind also nicht neu und haben sich über Jahrzehnte entwickelt. Besonders sichtbar wurde das nach der Durban UN Konferenz gegen Rassismus 2001, aber im Grunde gibt es diese Form seit den 70er Jahren. Am 7. Oktober kam es zur Explosion. Und jetzt sind wir in einer Phase, in der sich diese Form des Antisemitismus gefährlich normalisiert und auf die perfide und geschichtsvergessene Formel reduziert wird: Juden = Zionisten = Nazis.“
Lange Zeit wurde die Prävention und Bekämpfung von Antisemitismus auf den Bereich Bildung beschränkt. Antisemitismus ist aber auch in eher unerwarteten Bereichen virulent, wie z.B. in Teilen der Kunst- und Kulturszene. Was kann aus Ihrer Sicht getan werden, um mehr Bewusstsein für dieses strukturelle Problem zu schaffen? „Der Bereich Bildung ist nach wie vor ein elementarer Baustein, um in der Bevölkerung ein notwendiges Bewusstsein für Antisemitismus zu schaffen. Ein gutes Beispiel ist die Einführung von verpflichtenden Unterrichtseinheiten zum Thema Holocaust. Der gerade um sich greifende Antisemitismus führt uns aber nachdrücklich vor Augen, dass die Maßnahmen in den vergangenen Jahrzehnten nicht ausreichend waren. Es braucht natürlich Faktenwissen, nicht nur über den Holocaust, sondern über jüdisches Leben, über Antisemitismus, über die jüdische DNA in dem, was Europa ausmacht. Aber vor allem braucht es Empathie. Es gab in manchen Ländern diesbezüglich in den vergangenen Jahren tatsächlich Fortschritte. Am 7. Oktober sind viele Bündnisse aber zerbrochen, etwa zwischen jüdischen Studierenden und der Klimaschutzbewegung, LGBTI-Gruppen oder mit Muslimen. Der Bruch der Kooperationen, das Abwenden von Freunden und Bekannten ist schmerzhaft. Um der Polarisierung in der Gesellschaft zu begegnen, und ausgehend von der barbarischen Attacke der Hamas und dem darauffolgenden antisemitischen Tsunami, hat die Europäische Kommission am 6. Dezember letzten Jahres eine Verlautbarung 'Europa vereint gegen Hass' herausgebracht, die Zivilgesellschaften auffordert, mehr für die Bekämpfung von Hass in all seinen Formen zu tun. Nur wenn Maßnahmen bis auf die lokale Ebene herunterreichen und spürbar sind, können sie tatsächlich zu einer Verbesserung im Alltag von Jüdinnen und Juden führen. Wir gehen allerdings auch davon aus, dass die schweigende Mehrheit die Situation differenzierter bewertet als die Blasen, die sich in der Kunst- und Kulturszene und an den Universitäten gebildet haben. Beispielsweise gab es bei den 'Citizens Panels', die die Europäische Kommission veranstaltet hat, konstruktive und ausgewogene Diskussionen. Bei der Abschlusssitzung des 'European Citizens Panel on Tackling Hatred in Society' im Mai haben 150 europäische Bürgerinnen und Bürger 21 Empfehlungen an die Europäische Kommission gerichtet, die darauf abzielen, Hass in all seinen Formen zu bekämpfen und gegenseitigen Respekt zu fördern.“
Wie bewerten Sie hinsichtlich der Europa-Wahlen die Auswirkung der veränderten politischen Gewichtungen auf die jüdischen Communities europaweit? Inwiefern ist die EU als Gemeinschaft handlungsfähig und kann politischen Einfluss nehmen? „Die Auswirkungen der neuen politischen Gewichtungen lassen sich erst während der neuen Legislaturperiode bewerten. Eins ist klar: Unsere Demokratie muss verteidigt werden. Wir erleben (was der Jurist Böckenförde schon in den 1960ern betonte), dass 'der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann'. Demokratie ist ein Prozess, der nie abgeschlossen ist, sie muss jeden Tag neu gelebt werden. Die EU-Wahlen haben gezeigt, dass die Mitte trotz allen Unkenrufen stark bleibt. Gleichzeitig ist sicherzustellen, dass Extremisten auf beiden Seiten des politischen Spektrums die Demokratie nicht von innen aushöhlen.“
Erlauben Sie uns zum Abschluss eine persönliche Frage: Was motiviert Sie zu Ihrem sicherlich nicht einfachen Amt, was sind Rückschläge – aber auch Erfolgserlebnisse? „Einfach ist es zur Zeit in der Tat nicht. Aber wenn man die lange Geschichte des Antisemitismus in Europa betrachtet, sind wir zum ersten Mal in der Geschichte dieses Kontinents in einer Situation, in der wir nicht nur das Negative, also den Antisemitismus, sehen und bekämpfen, sondern – wie schon der Titel unserer Antisemitismusstrategie sagt- einen positiven Ansatz verfolgen: die Förderung jüdischen Lebens. Wir haben trotz aller Rückschläge viel erreicht! Das gilt es auszubauen. Bei den meisten Regierungen hat ein Umdenken stattgefunden. Die IHRA-Definition ist international anerkannt und wird von den EU-Mitgliedstaaten, vielen Drittstaaten und anderen Institutionen und NGOs genutzt. Außerdem haben seit 2020 immerhin 21 Mitgliedstaaten Antisemitismusstrategien verabschiedet. Es wurden Antisemitismusbeauftragte ernannt, mit denen wir eng zusammen arbeiten. Auch global sind wir viel besser vernetzt. Im Juli treffen sich die Beauftragten aus Europa, USA, Kanada, Israel und Lateinamerika in Argentinien anlässlich des 30-jährigen Gedenkens an den Anschlag auf die jüdische Gemeinde. Dort werden Globale Richtlinien zur Antisemitismusbekämpfung verabschiedet. - Also, es ist viel passiert! Und nach dem 7. Oktober haben wir die Umsetzung unserer Strategie nochmal beschleunigt. Aber es braucht Zeit, bis die vielen Maßnahmen Wirkung zeigen. Europa kann nur dann blühen, wenn auch seine jüdischen Gemeinschaften blühen. Die Bedingungen für ein lebendiges jüdisches Leben in Europa zu schaffen - das ist das Ziel der EU-Kommission und auch mein ganz persönliches.“
Herzlichen Dank für das Interview! Wir wünschen Ihnen viel Kraft für Ihre zukünftige Arbeit! HvB, ZWST