Im Gespräch mit Prof. Dr. Karin Böllert

Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ
Liebe Frau Prof. Dr. Böllert, welche zentralen Aufgaben und Ziele verfolgt die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ auf nationaler und internationaler Ebene? „Die AGJ ist das Forum und Netzwerk bundeszentraler Zusammenschlüsse, Organisationen und Institutionen der freien und öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Sie vereint unter ihrem Dach über 100 Mitgliedsorganisationen. Ausgehend von den Leitbegriffen Kommunikation – Kompetenz – Kooperation verfolgt die AGJ u.a. Ziele der Förderung der fachlichen Kommunikation der Kinder- und Jugendhilfe, ihre Weiterentwicklung auf Bundesebene, aber auch im europäischen bzw. internationalen Kontext sowie die Interessenvertretung der Kinder- und Jugendhilfe auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene. Sie nimmt die Schnittstelle der Kinder- und Jugendhilfe zu anderen Gesellschafts- und Politikbereichen in den Blick und ist das zentrale Forum für Kinder- und Jugendpolitik.
Weitere Ziele sind die Förderung des Zusammenwirkens (Netzwerkarbeit) aller bundeszentralen Träger der freien und öffentlichen Jugendhilfe, die Lobbyarbeit gegenüber der Legislative und der Exekutive sowie die Bearbeitung von Themen und Fragestellungen der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe, die träger- und handlungsfeldübergreifend sind. Die AGJ zielt damit auf die Zusammenführung der Interessen von Trägern und Mitarbeiter:innen unter dem übergeordneten Gesichtspunkt von Fachlichkeit der Kinder- und Jugendhilfe und das Einbringen der fachlichen Positionen und der besonderen Struktur der deutschen Kinder- und Jugendhilfe in die europäische Ebene. So hat die AGJ kürzlich einen offenen Brief ‚Der Umsetzung der Europäischen Garantie für Kinder in Deutschland eine hohe Priorität geben‘ mitgezeichnet, mit dem die Verhandlungspartner der zukünftigen Koalition in Berlin auf die Notwendigkeit hingewiesen werden, der EU-Kindergarantie - und damit der Verringerung von Kinderarmut - in der nächsten Legislatur eine hohe Priorität einzuräumen.“
Wie trägt die AGJ zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland bei, insbesondere im Hinblick auf aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen wie Digitalisierung oder Inklusion? „Die Umsetzung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe und die Erarbeitung eines Kinder- und Jugendhilfeinklusionsgesetzes (IKJHG) sind in den letzten Jahren von der AGJ intensiv begleitet worden. In dem auf Bundesebene angesiedelten Beteiligungsprozess ‚Gemeinsam zum Ziel‘ hat die AGJ die Vertretung der Kinder- und Jugendhilfe organisiert und koordiniert. Während des gesamten Prozesses wurden Stellungnahmen und Positionierungen kontinuierlich in den Beteiligungsprozess eingebracht. In dem gerade veröffentlichten Zwischenruf ‚Kinder- und Jugend(hilfe)politik im Koalitionsvertrag stark machen!‘ hat der Geschäftsführende Vorstand der AGJ sich am 14. März 2025 an die Parteispitzen von CDU, CSU und SPD sowie an die Verhandlungsführer:innen gewandt, die die AG 7 – Familie, Frauen, Jugend, Senioren und Demokratie bilden. Hier werden sie aufgefordert, in den Koalitionsverhandlungen stärkere kinder- und jugend(hilfe)politische Weichenstellungen vorzunehmen, als bisher im Sondierungspapier skizziert sind. Dies würde auch bedeuten, die Reform des SGB VIII zu Ende zu bringen.
Der Frage der Digitalisierung der Kinder- und Jugendhilfe wird die AGJ mit einem neu gestarteten Projekt bearbeiten. Zum 01.01.2025 konnte das Verbundprojekt ‚Digitale Kompetenzen in der Kinder- und Jugendhilfe‘ (DiKoJu) – ein gemeinsames Vorhaben der AGJ und der Universität zu Köln – starten. Es wird durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) von 2025 bis Ende 2029 gefördert.
Diese und viele weitere Themen stehen natürlich auch im Fokus des 18. Deutschen Kinder- und Jugendhilfetages (DJHT) vom 13.-15. Mai 2025 in Leipzig, der unter dem mehr als nur aktuellen Motto steht: ‚Weil es ums Ganze geht: Demokratie durch Teilhabe verwirklichen!‘ Ich lade alle Leser:innen ganz herzlich ein, nach Leipzig zu kommen.“
Die ZWST hat seit einigen Jahren ein ‚Jugend-Board‘, eine eigenständige Interessenvertretung der ZWST-Jugend initiiert. Die Mitglieder zwischen 14 und 18 Jahren haben ein Mitspracherecht bei der Gestaltung aller Programme für die junge Generation. Was betrachten Sie als die größten Meilensteine, die die AGJ in den letzten Jahren erreicht hat, insbesondere im Bereich der eigenständigen Jugendpolitik? „Die AGJ ist seit 15 Jahren an der Entwicklung, Konzeptualisierung, Um- und Durchsetzung einer Eigenständigen Jugendpolitik maßgeblich beteiligt. Es ist deshalb nicht ganz einfach, einen einzigen Meilenstein zu markieren. Immer wieder hat sich die AGJ mit Stellungnahmen und unterschiedlichen Projekten in diesen Prozess wirksam eingebracht, z.B. 2007 mit der Ersten Nationalen Konferenz ‚Vom Verschwinden der Jugendpolitik‘ oder 2018 mit der Veröffentlichung ‚16 Wege zu mehr Jugendgerechtigkeit – Gelingensbedingungen für jugendgerechte Kommunen‘. Aktuell führt die Arbeitsstelle ‚Eigenständige Jugendpolitik‘ verschiedene themenbezogene Denkwerkstätten durch. Damit will sie den handlungsfeldübergreifenden Austausch zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteuren befördern. Die Eigenständige Jugendpolitik fällt nicht allein in die Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe, sondern geht alle Ressorts an. Auch in den eigenen Strukturen der AGJ hat die Eigenständige Jugendpolitik Spuren hinterlassen: Aktuell vorbereitet wird die Einbindung des Bundesnetzwerkes der Interessenvertretungen in der Kinder- und Jugendhilfe (BUNDI) des Verbandes Careleaver e.V. in die Fachausschussarbeit der AGJ. Trotz der insgesamt zahlreichen Aktivitäten ist der Weg hin zu einer Eigenständigen Jugendpolitik und zu einer tatsächlich partizipativen Kinder- und Jugendhilfe aber noch längst nicht am Ziel. Schließlich zeigt sich gerade wieder einmal, dass – sieht man sich das Sondierungspapier der Koalitionäre in Berlin an – die Interessen der jungen Menschen so gut wie keine Rolle zu spielen scheinen.“
Das Gesetz zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen (UBSKM-Gesetz) wurde kürzlich verabschiedet. Wie bewerten Sie dieses Gesetz, insbesondere im Kontext anderer Vorhaben, die nicht umgesetzt wurden? „Ich bin sehr froh darüber, dass es gelungen ist, dieses Gesetz noch zu verabschieden. Das Gleiche hätte ich mir für das Kinder- und Jugendhilfeinklusionsgesetz auch gewünscht. Prof. Dr. Sabine Andresen (Präsidentin des Kinderschutzbundes), Prof. Dr. Wolfgang Schröer (Vorsitzender des Bundesjugendkuratoriums) und ich hatten in einem Offenen Brief an den Bundeskanzler Olaf Scholz und die Fraktionsvorsitzenden der demokratischen Parteien im Bundestag noch vor den Bundestagswahlen beides eingefordert. Das UBSKM-Gesetz greift lang gehegte Anliegen der Fachpraxis und vor allem auch der Betroffenen sexualisierter Gewalt auf. Insbesondere die Absicherung der Strukturen der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, die Stärkung des Betroffenenrates und der Aufarbeitungskommission sind zukunftsweisend. Von dieser Bundesstruktur werden wichtige Impulse für Prävention, Intervention und Aufarbeitung sexualisierter Gewalt ausgehen. Dies gilt insbesondere für die Berichtspflicht gegenüber Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung.“
Was motiviert Sie persönlich in Ihrer Arbeit als Vorsitzende der AGJ? Welche Vision haben Sie für die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe? „Für mich gibt es keinen besseren Ort als die AGJ, um die Vielfalt der Kinder- und Jugendhilfe zu erfahren und im Interesse der jungen Menschen kinder- und jugend(hilfe)politisch zu gestalten. Als Wissenschaftlerin habe ich den Auftrag, theoretische und empirische Erkenntnisse im Rahmen einer Transferperspektive in unterschiedliche Praxis- und Politikzusammenhänge einzubringen, um gemeinsam mit der Praxis an einer Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe mitwirken zu können. Darüber hinaus lässt sich für mich aus der privilegierten Position einer Hochschullehrerin auch die Verpflichtung ableiten, einen Beitrag zur Verbesserung der Lebenschancen derjenigen zu leisten, die weniger privilegiert sind. Beides kann ich in und mit der AGJ in einer sehr produktiven, kollegialen und niemals langweilig werdenden Art und Weise realisieren. Meine Vision für die Zukunft? Die Sachverständigenkommission des 17. Kinder- und Jugendberichtes hat das gut auf den Punkt gebracht: Jung sein können mit Zuversicht und Vertrauen für alle jungen Menschen durch eine vertrauenswürdige, d.h. verlässliche, qualitativ hochwertige und entsprechend ausgestattete sowie fachlich versierte Kinder- und Jugendhilfe. Gerechtes Aufwachsen ist möglich, wenn viele Akteure ihre Verantwortung für eine wirkungsvolle Kinder- und Jugendhilfe wahrnehmen.“
Was hat Sie dazu motiviert, eine empirische Untersuchung über jüdische Gemeinden als Orte sozialer Dienste durchzuführen? Welches Forschungsinteresse oder auch gesellschaftliche Entwicklungen haben Sie dabei geleitet? „Die Projektidee ist vor dem Hintergrund eines Forschungsprojektes entstanden, das sich mit dem Zusammenhang von Sozialen Diensten und Glaubensgemeinschaften auseinandergesetzt hat. Dabei konnten wir herausarbeiten, dass zusätzlich zu einer Dominanz der beiden großen christlichen Wohlfahrtsverbände Soziale Dienstleistungen und damit die Produktion von Wohlfahrt viele andere Akteure hat, die öffentlich in ihrer Bedeutsamkeit kaum wahrgenommen werden, die aber für die sozialstaatliche Ausgestaltung und gesellschaftliche Teilhabe von enormer Bedeutung sind. Die Untersuchung der jüdischen Gemeinden als solche Orte hat deutlich gemacht, wie viel dort unter z.T. erschwerten Bedingungen geleistet wird, was alles unverzichtbar, aber gleichzeitig kaum bekannt ist und wenig anerkannt und wertgeschätzt wird.“
Welche Rückschlüsse ziehen Sie aus Ihren Ergebnissen für die zukünftige Entwicklung jüdischer Gemeinden als soziale Dienstleister? Welche Bedeutung haben diese Erkenntnisse für die allgemeine Diskussion über Wohlfahrt und soziale Dienste in Deutschland? „Die Allgemeine Sozialberatung ist ein ‚Kernstück‘ jüdischer Sozialarbeit, die sie primär durch niedrigschwellige und offene Angebote realisiert. Migration und Sprache (z.B. Übersetzungsleistungen aufgrund fehlender Deutschkenntnisse) sind wesentliche Bezugspunkte der sozialen Unterstützung, die in (fast) allen Handlungsfeldern der jüdischen Gemeinden zum Tragen kommt – um nur einige Ergebnisse zu markieren. Die Herausforderungen bestehen u.a. darin, dass wir einen Mangel an stationären Einrichtungen in der Altenhilfe sowie ein zu geringes Angebotsspektrum in der Kindertagesbetreuung feststellen konnten. Allein diese beiden Beispiele veranschaulichen die Spannbreite der Leistungen jüdischer Gemeinden über alle Lebensphasen hinweg. Auf Dauer werden die Gemeinden dies alles nicht in erster Linie ehrenamtlich leisten können. Zentraler aber ist für mich, dass die Gemeinden einen ganz wichtigen Beitrag zur Integration zugewanderter Bevölkerungsgruppen leisten und damit den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft stärken, ohne dafür ausreichend anerkannt und ausgestattet zu sein. Dies ist aber kein Alleinstellungsmerkmal der jüdischen Gemeinden, sondern betrifft insgesamt die Wahrnehmung der Wohlfahrtsproduktion in einer mehr oder weniger fiskalisch dominanten Perspektive der Kosten bzw. Ausgaben und nicht dessen, was hierdurch geleistet und überhaupt erst ermöglicht wird.“
Wir bedanken uns für das Gespräch und wünschen Ihnen viel Erfolg und Power für Ihr weiteres Engagement!
HvB, ZWST