Die Treffpunkte als sicherer Ort für Überlebende

Die Treffpunkte als sicherer Ort für Überlebende

Am 26. März 2021 wurde Dr. Noemi Staszewski für ihren Einsatz für Shoah-Überlebende während der Corona-Pandemie mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verlieh der Mit-Begründerin des Treffpunkt-Konzeptes und langjährigen Leiterin des Frankfurter Treffpunktes für Überlebende der Shoah im Schloss Bellevue das Verdienstkreuz am Bande. 
Geb. 1954 und aufgewachsen in Berlin, aktiv im Jugendzentrum der jüdischen Gemeinde und in der Zionistischen Jugend Deutschlands, studierte Dr. Noemi Staszewski Islamwissenschaft, Psychologie und Sozialpädagogik in Berlin und Frankfurt/M. und absolvierte Zusatzausbildungen für Psychodrama und Gestalttherapie. Zusammen mit ihrem Mann, dem Arzt Dr. Schimon Staszewski sel. A. und ihren gemeinsamen vier Kindern zog sie 1986 von Berlin nach Frankfurt/M. In der Praxis ihres Mannes arbeitete sie psychotherapeutisch mit. Anfang der 90er-Jahre übernahm sie die Leitung des Pädagogischen Zentrums der ZWST, organisierte Seminare und entwickelte Konzepte für Lehrerfortbildungen.
Die ZWST hat sich mit ihr über das Konzept der Treffpunkte unterhalten:


Liebe Noemi, heute bist du „Senior-Beraterin“ der ZWST. Vor rund 30 Jahren hast du angefangen, bei der ZWST zu arbeiten. Was war der Auslöser oder die Initialzündung, dich für die psycho-soziale Versorgung von Überlebenden der Shoah zu engagieren? Kannst du uns etwas über die Anfänge berichten, die in der Gründung des ersten Treffpunktes für Überlebende in Frankfurt mündeten? 
„Vor über 20 Jahren begannen Beni Bloch sel.A., ehemaliger Direktor der ZWST und Karl Brozik, sel.A., der damalige Repräsentant der Claims Conference in Deutschland, Gespräche darüber zu führen, wie Überlebende der Shoah bei der Bewältigung vermehrt auftretender Alltagsprobleme professionell unterstützt werden könnten. Fragen, die auch immer wieder in Seminaren und Teambesprechungen bei der ZWST diskutiert wurden. Unter der Leitung von Beni Bloch entstand eine Arbeitsgruppe mit Überlebenden und Fachkräften und Beni holte mich ins Team. Ich gehöre zur 2. Generation und hatte bereits eine ganze Reihe von Interviews für die Spielberg Foundation durchgeführt. Wir haben Erfahrungen ausgetauscht, Bedarfe zusammengetragen, bereits praktizierte Konzepte ausgetauscht, Literatur gewälzt und Kontakte mit Expert:innen auf dem Gebiet der Traumabegleitung und Therapie mit Überlebenden in England, Holland, Österreich und Israel geknüpft. So entstand auch ein enger Austausch mit Nathan Durst sel.A., dem damaligen medizinischen Leiter von AMCHA Israel, selbst Überlebender und Psychoanalytiker. Er stellte uns die provokante Frage, warum wir eigentlich immer über die Überlebenden reden würden: ´warum macht Ihr nicht etwas für sie und mit ihnen?!` Das Ergebnis unserer Diskussionen führte zum ersten Konzeptentwurf für eine Einrichtung mit niedrigschwelligen Angeboten für Überlebende, die gleichzeitig Vernetzungen und Fortbildungen für Fachkräfte anstoßen sollte. Ich wurde mit der Umsetzung beauftragt, stellte Anträge, besorgte finanzielle Mittel und Räume und so konnten wir Ende August 2002 in der Liebigstraße mit einem ersten Kaffeenachmittag den ´Treffpunkt für Überlebende der Shoah und ihre Angehörigen` eröffnen.“

Was ist aus deiner Perspektive die Hauptaufgabe der mittlerweile über 30 „Treffpunkte“ in ganz Deutschland – auch basierend auf den Erfahrungen mit den Besucher:innen?  
„Mit zunehmendem Alter verringern sich naturgemäß die sozialen Kontakte und die Mobilität nimmt ab. Viele Überlebende haben keine Familie vor Ort und laufen Gefahr, zu vereinsamen. In einem Lebensabschnitt, in dem das Kurzzeitgedächtnis eher schwindet und traumatische Erinnerungen aus der Kindheit und Jugend stärker in den Vordergrund rücken, ist ein isolierter Alltag für viele unerträglich. Eine zentrale Aufgabe der ´Treffpunkte` ist es, dieser drohenden Einsamkeit entgegenzuwirken: mit Gruppenangeboten wie Kaffeenachmittagen, Vorträgen, Kleingruppenaktivitäten, Ausflügen oder auch durch individuelle Betreuung, Besuche von Ehrenamtlichen und vieles mehr. Die ´Treffpunkte` sind für viele Überlebende zum sozialen Mittelpunkt ihres Lebens geworden, ein sicherer Ort, wo sie sich aufgehoben fühlen, ohne sich und ihre Launen erklären zu müssen. Gerade während der Pandemie spüren wir alle schmerzlich, wie wichtig diese sozialen Kontakte sind, besonders für die Älteren. Zentral ist die Entwicklung gegenseitigen Vertrauens. Nur auf dieser Basis sind wir in der Lage, Hilfsangebote zu machen oder zu vermitteln. Dabei ist es völlig unerheblich, um welche Art der Unterstützung es sich jeweils handelt. Das durch Kontinuität und Verlässlichkeit aufgebaute Vertrauen ist die Voraussetzung für eine gelingende Begleitung. Es ist eine sehr sensible Pflanze, die jederzeit zerstört werden kann und viel Zeit und Geduld benötigt, um zu gedeihen.“

Eine wichtige Rolle in der fachlichen Arbeit spielen die internationalen Fachtagungen, die die ZWST seit 2008 ca. alle 2 Jahre im Gemeindezentrum Frankfurt mit rund 200 Teilnehmenden durchführt. Was steht für dich im Fokus dieser Veranstaltungen, deren Inhalte auch in einigen Veröffentlichungen der Öffentlichkeit zugänglich sind? 
„Das besondere an diesen mehrsprachigen Veranstaltungen ist, dass sich hier Betroffene, Praktiker:innen, Wissenschaftler:innen und Multiplikator:innen in einem internationalen Kontext treffen, austauschen und gemeinsam über Kernfragen ihrer Arbeit und Erfahrungen, aber auch über neue Fragestellungen diskutieren. Die Kombination aus Vorträgen, Podien und Workshops schafft eine Basis, neue Menschen und ihre Arbeitsweisen kennenzulernen, Projektideen auszutauschen, Kontakte über die Grenzen hinaus zu knüpfen und voneinander zu lernen. Jede Tagung hat immer zu einem spezifischen Schwerpunktthema stattgefunden, so dass der fachliche Austausch häufig fokussiert war."

Das gesamte Team – alle Leiter:innen sowie haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter:innen leisten fantastische und bewundernswerte Arbeit in den Treffpunkten. Sie organisieren vielfältige Aktivitäten mit den Senior:innen und mobilisieren jedwede Unterstützung, um den häufig hochbetagten und traumatisierten Menschen das Gefühl von Isolation und Einsamkeit zu nehmen. Was ist aus deiner Perspektive wichtig, um die so oft zitierte „Hilfe für die Helfer:innen“ zielgerecht umzusetzen? 
„Supervision ist für Menschen, die mit komplex traumatisierten Überlebenden arbeiten, lebenswichtig, um die eigenen Ressourcen zu schonen und die emotionale Belastung, die mit dieser Arbeit verbunden ist, zu kompensieren. Leider reichen meist weder Zeit noch vorhandene Mittel aus, um allen Mitarbeiter:innen diese Angebote ausreichend zur Verfügung zu stellen. Die Treffpunkte sind chronisch unterfinanziert, sehr viele Leistungen werden ehrenamtlich erbracht. Hier gibt es noch eine Menge Verbesserungsbedarf. Im Frankfurter Treffpunkt führen wir in den Teamsitzungen eine Art Mitarbeitersupervision durch. Dies reicht aber nicht aus und ist zudem unter Corona-Bedingungen kaum umsetzbar. Dabei hat gerade jetzt die emotionale, physische und zeitliche Belastung unserer Mitarbeiter:innen zugenommen.“

Während der Corona-Pandemie habt ihr wunderbare, kreative Ideen entwickelt, um die so wichtigen persönlichen Kontakte trotzdem zu halten. Kannst du ein paar Beispiele nennen?  
„Wir haben zunächst kontinuierliche Telefon-Kontakte organisiert. Vor allem die Überlebenden ohne familiären Anschluss standen bei uns im Fokus. Über diese Telefonate wurden dann auch Lebensmittelversorgungen, Arzneimittelbestellungen, Krankenhaustransporte und vieles andere organisiert. Dann haben wir eine Projektidee von Dennis Stern (ehemaliger Madrich der ZWST) aufgegriffen: ´So schmeckt Schabbes`. Gemeinsam mit befreundeten Familien hat er ein Netz von Ehrenamtlichen aufgebaut und wöchentlich ein viergängiges Schabbesessen zusammengestellt. Die Familien lieferten in den Treffpunkt, wo das Essen portioniert, verpackt und von Ehrenamtlichen an, vor allem alleinstehende Überlebende geliefert wurde. Dieses Projekt wurde nicht nur wegen des guten Essens zum ´Renner` für die Überlebenden, sondern förderte auch zusätzliche soziale Kontakte. Auch für unser Team war es eine beeindruckende Erfahrung: ´Liebe geht durch den Magen` in Reinform. Während des ersten Lockdowns haben wir weiterhin durch verschiedene kleinere Aktionen mithilfe ehrenamtlicher Helfer:innen den Überlebenden gezeigt, dass wir für sie da sind. Wenn diese Zeit etwas Gutes hatte und hat, dann die Erfahrung, dass viele Menschen bereit waren und sind, sich für andere zu engagieren.  
Während der Lockerungen haben wir Treffen im Freien organisiert, wie z.B. Qi Gong im Park in einer kleinen Gruppe oder kurz vor Rosh Hashanah ein physisches Wiedersehen auf der großen Außenterrasse des Vereinszentrums von TUS Makkabi. Die Erfahrungen haben uns viele kleine Wege gezeigt, den Kontakt zu den Überlebenden und auch unter ihnen über Telefonketten und zum Teil über digitale Kanäle zu fördern. Unsere Maßnahmen und Angebote müssen immer wieder aktuell an die jeweiligen Bedarfe und Rahmenbedingungen angepaßt werden. Vor allem bei Senior:innen mit einer Demenzerkrankung oder mit stark eingeschränkter Mobilität können wir auf direkte, physische Kontakte bei der Begleitung nicht verzichten. Wir sind daher froh, dass die meisten unserer Adressat:innen bereits geimpft sind.“ 

Wo siehst du zukünftige Anforderungen in der Arbeit mit Shoah-Überlebenden und ihren Nachkommen?  
„Bereits vor der Pandemie haben wir in einem Spagat agiert: Einerseits wollen wir Hochbetagte und eingeschränkt mobile Überlebende adäquat versorgen und begleiten, andererseits ist es auch unsere Aufgabe, auf unterschiedliche Bedarfe und Fragestellungen jüngerer Überlebender einzugehen. Sie wenden sich mit sehr unterschiedlichen Motivationen und Fragestellungen an uns. Hier müssen wir in Zukunft weitere, bedarfsorientierte und differenzierte Angebote entwickeln und zusätzliche Kapazitäten schaffen. In der Arbeit mit den Child Survivors liegt aber auch ein sehr großes Potenzial für viel Eigeninitiative sowohl der Überlebenden als auch von Ehrenamtlichen. Auf diese Perspektiven freuen wir uns. Ein weiteres wichtiges Aufgabenfeld wird die Arbeit mit Angehörigen und Folgegenerationen einnehmen. In Frankfurt hatten wir bereits erfolgreich eine Gruppe ´2. Generation` etabliert, die seit Pandemiebeginn aufgrund begrenzter Ressourcen nicht mehr aktiv sein konnte. Aber wir werden den Faden wieder aufnehmen und wollen generationsübergreifende Angebote in unsere Arbeit integrieren. Hier gibt es viele Ideen und Diskurse und ich hoffe, dass wir in diesem Jahr bald die Gelegenheit haben werden, unsere Konzepte auszubauen.“

Vielen Dank und viel Erfolg für eure zukünftige Arbeit! HvB, ZWST