Ein Jahr nach dem 7. Oktober: Krisensupport in Deutschland

Ein Jahr nach dem 7. Oktober: Krisensupport in Deutschland

Zwei gezeichnete Portraits

Rückmeldungen aus dem Jugend- und Sozialreferat der ZWST

 

Nachumi Rosenblatt, Leiter des Kinder-, Jugend- und Familienreferates der ZWST: „Wir haben schnell festgestellt, wie groß das Bedürfnis unserer Jugendlichen ist, die Situation besser zu verstehen. Im Winter 2023 haben wir gemeinsam mit der World Zionist Organization ein Seminar für die Madrichim:ot der Jugendzentren durchgeführt. Dabei hat mich die Aussage einer Madricha besonders mitgenommen: ‚Ich habe meine beste Freundin aufgrund unserer unterschiedlichen Meinungen verloren, ich habe gesehen, was sie auf Social Media repostet und war schockiert. Ich habe versucht mit ihr zu sprechen, wir hatten einen Riesenstreit und haben seitdem nicht mehr geredet. Ich habe mir oft überlegt, ob ich diejenige bin, die vielleicht auf der falschen Seite ist. Was ich weiß, das habe ich von euch, aber ich sehe das nicht in den Medien. Und manchmal weiß ich nicht mehr, wem ich glauben soll.‘ Damit ist mir klar geworden, in was für einer komplizierten Situation sich die Jugendlichen befinden, wie wichtig es ist, sie zu unterstützen und ihre Medienkompetenz zu fördern.
  
Für die Machanot im Sommer haben wir einen Empowerment-Ansatz gewählt, der sich aus der jüdischen Tradition und Geschichte ableitet: Aus jeder Katastrophe sind wir stärker hervorgegangen. Deshalb wollten wir unsere Chanichim:ot bestärken: Leb dein Leben, sei selbstbewusst! Mir ist sehr wichtig, dass wir der jungen Generation im Sommer Freude zurückgeben konnten. Nach dem Besuch von Jugendlichen aus Kfar Aza zu Chanukka im Winter hatten wir auch im Sommer über 50 Jugendliche aus Otef Aza dabei. Zum ersten Mal ging es für alle Teilnehmenden auch um praktische Solidarität miteinander. Die Jugendlichen aus der Grenzregion beschrieben, wir gut es ihnen tut, zwei Wochen keine Sirenen hören zu müssen, sich nicht jede Minute mit dem 7. Oktober zu befassen, der ihr Leben ohnehin für immer verändert hat. Auch hier beschrieben sie, wie eindrücklich es für sie war, 150 jüdische Jugendliche aus Deutschland kennenzulernen, die sich danach sehnen, sich zwei Wochen lang nicht erklären zu müssen, weil sie im Alltag belastende Erfahrungen machen.  

Die Situation unserer Kinder und Jugendlichen und auch der Madrichim:ot ist bedrückend. Alle haben einen hohen Mitteilungsbedarf. Daher hatten wir während des gesamten Sommers in Italien eine Lehrerin dabei, die Kleingruppensitzungen angeboten hat. Die Jugendlichen konnten sich dort öffnen und ihre Erfahrungen mitteilen. Viele ihrer Berichte sind extrem belastend und zeugen davon, dass auch Lehrkräfte bei antisemitischen Vorfällen oft nicht einschreiten oder selbst auch Teil des Problems sind. Hinzu kommen die Eltern, die große Sorgen haben, insbesondere auch in Bezug auf die Sicherheit ihrer Kinder.“

Ilya Daboosh, Leiter des Sozialreferates der ZWST: „Mit dem 7. Oktober ist binnen kurzer Zeit die dritte Krise eingetreten, die die vulnerablen Gruppen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft auf mehreren Ebenen hart trifft. Mit jeder Krise haben wir dazu gelernt und konnten so auch auf unsere Erfahrungen zurückgreifen. Ukrainische Geflüchtete, die nach Israel geflohen waren, meldeten sich mit Anfragen, ob sie nach Deutschland kommen können. Wir erhielten Anrufe für Verwandte aus Israel, die nach Deutschland flüchten wollten. Wir erstellten ein Factsheet für Israelis in Deutschland mit einer Übersicht zu bürokratischen Abläufen. Insbesondere die großen jüdischen Gemeinden nahmen viele israelische Interims-Geflüchtete auf. In regelmäßigen Austauschrunden mit jüdischen Gemeinden informieren wir uns über den Sachstand vor Ort. Im Rahmen von allen Seminaren und Veranstaltungen gibt es einen Bezug zum Krieg in Israel: Teilnehmende und Ehrenamtliche initiieren Gedenken, Schweigeminuten, wir engagieren Referent:innen, um Updates zur Lage in Israel zu vermitteln und somit auch der Hilflosigkeit ein Stück weit entgegenzuwirken. Die Solidarität unserer Teilnehmenden mit Israel, mit den Menschen und die große Hoffnung auf Frieden ist deutlich zu spüren.  

Im Rahmen unserer Bildungsaufenthalte im Kurheim Beni Bloch wird deutlich: Bei Senior:innen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion wurden durch den 7. Oktober und die Zeit danach viele Assoziationen und Erinnerungen geweckt: Das eigene Erleben als Juden in der Sowjetunion, geprägt von Pogromen, systemischer Diskriminierung und sowjetischer, antizionistischer Propaganda. Die Älteren sind seit der Corona-Pandemie, dem Angriffskrieg auf die Ukraine und schließlich dem 7. Oktober mit einer Aufeinanderfolge von Sorge, Anspannung, Isolation und Hilflosigkeit konfrontiert, wie sie es in den letzten 30 Jahren nicht auf vergleichbare Weise erlebt haben. Insbesondere für Überlebende der Shoah aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion waren die letzten vier Jahre auf verschiedenen Ebenen eine extreme Belastung. In den Treffpunkten für Shoah-Überlebende und ihre Angehörigen wurden Angebote, Gesprächsräume und Safer Spaces für Überlebende sowie die 2. und 3. Generation geschaffen, um dem hohen Bedarf für betreuten Austausch entgegenzukommen. Für viele Teilnehmende an unseren Aktivitäten rückt in diesen schweren Zeiten das Bedürfnis nach Jüdischkeit und jüdischen Traditionen in den Vordergrund, da sie ihnen Halt geben.  
Die Zusammenarbeit zwischen ZWST und Gemeinden geht in dieser Zeit über alle Grenzen hinaus. Die Sozialabteilungen in den Gemeinden leisten unermüdlich Unterstützung.“