In erhöhter Alarmbereitschaft

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EIN JAHR OFEK IN BADEN-WÜRTTEMBERG – FORTSETZUNG EINER GESPRÄCHSREIHE

 

Die Beratungsstelle OFEK entstand 2017 als Modellprojekt im Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment, um dem zunehmenden Bedarf an stärkender Beratung nach antisemitischer Gewalt und Diskriminierung nachzugehen und qualifizierte Beratungsangebote für Einzelne und Gemeinden bundesweit zu etablieren. Seit 2019 ist OFEK ein eingetragener Verein mit Sitz in Berlin und bundesweiter Ausrichtung. Im Jahr 2020 wurden weitere Standorte in Hessen, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt etabliert.

Im Gespräch mit: 
• Anat Ivgi (35), Stuttgart, Beraterin bei OFEK BaWü seit Oktober 2020
• Dorothea Kleintges (35), Freiburg, Beraterin bei OFEK BaWü seit November 2020

„OFEK BaWü – Community basierte-Interventionen“ ist das regional spezialisierte Beratungsprojekt von OFEK e.V. in Baden-Württemberg. Mit zwei Beratungsstandorten in Stuttgart und Freiburg bietet OFEK BaWü zielgerichtete Unterstützung bei Antisemitismus vor Ort. Das Projekt wird durch das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ sowie das Staatsministerium Baden-Württemberg gefördert.

Was war und ist eure Motivation, die Tätigkeit als Beraterinnnen bei OFEK auszuüben? 
Anat: „Als ich in Deutschland ankam, war es mir noch nicht bewusst, was es bedeutet, als jüdischer Mensch in der Diaspora, besonders in Deutschland zu leben. Ich habe die Geschichte des jüdischen Volkes vor und nach der Shoah sowie den gesellschaftlichen Kontext verstanden. Bloßes Verstehen reicht aber nicht. Im Jahr 2013, an einem Freitagabend, bin ich aus Israel nach Deutschland gekommen und gleich vom Hauptbahnhof zur jüdischen Gemeinde gegangen. Neben der jüdischen Gemeinde standen zwei Polizeiautos – bei diesem Anblick spürte ich stark, dass ich in einer Gesellschaft lebe, in der Judenfeindlichkeit besteht. 
Als Beraterin möchte ich Menschen zuhören, sie unterstützen, ihre Erfahrungen sortieren und Handlungsmöglichkeiten finden, wie sie mit Antisemitismus- und Diskriminierungserfahrungen umgehen können. Das gibt mir Stärke, Sinn und Hoffnung –nicht, weil ich denke, dass der Antisemitismus in unserer Gesellschaft verschwinden wird, sondern weil der Umgang mit diesem sichtbarer und bewusster wird. Durch meine Tätigkeit als Beraterin kann ich nicht nur verstehen, sondern hauptsächlich fühlen, wie es meinen Mitmenschen geht, weil ich jetzt selbst ein jüdischer Mensch in der Diaspora bin.“ 

Dorothea: „Ich ärgere mich, wenn bei der Bekämpfung von Antisemitismus und Diskriminierung reine Ursachenforschung in Köpfen oder Kindheit von Täter:innen betrieben wird. Oder wenn gerätselt wird, ob etwas vielleicht ´gar nicht so gemeint` war. Stattdessen sollte an erster Stelle die Frage nach der Wirkung stehen! Wie geht es denen, die aus antisemitischen Motiven diskriminiert oder angegriffen werden? Was brauchen die Betroffenen, um die Tatfolgen zu bewältigen? Was stärkt sie, was tut ihnen gut? Niemand muss Diskriminierung und Gewalt hinnehmen. Der Staat ist in der Pflicht, dieselben Schutz- und Freiheitsrechte für alle zu gewährleisten. Bei der Durchsetzung dieser Rechte möchte ich Verbündete sein – nicht aus Mitleid oder Pflichtgefühl, sondern aus Solidarität und politischer Überzeugung.“

Was steht im Fokus der Anfragen? Sind hier Grundzüge in den Themen der Beratung erkennbar? 
„Grundsätzlich holen sich Menschen in den unterschiedlichsten Lebenslagen bei uns Unterstützung. Häufungen beobachten wir im Kontext Schule sowie im Wohnumfeld, wo jüdische Familien von den eigenen Nachbar:innen manchmal über Jahre antisemitisch belästigt, bedroht und schikaniert werden. In der letzten Zeit erreichte uns außerdem eine ganze Reihe Anfragen von Personen, die im medizinischen oder therapeutischen Bereich Antisemitismus erlebt haben. Das ist natürlich ein besonders sensibles Setting. Die Bandbreite an Vorfällen reicht von subtilen Mikroaggressionen oder dem Übersehen von Bedarfen bis hin zu schwerster seelischer und körperlicher Gewalt. Teilweise haben Menschen einen sehr langen Weg voll Anfeindungen und Bedrohungen hinter sich, bis sie endlich zum Hörer greifen und sich bei uns melden.“

Wie hat sich die jüngste Eskalation im Nahen Osten auf eure Arbeit ausgewirkt?
„Es waren sehr intensive Wochen in erhöhter Alarmbereitschaft. Allein in Baden-Württemberg wurden zwei Synagogen (in Mannheim und in Ulm) angegriffen. Die Zuspitzung antisemitischer Angriffe im Netz und auf der Straße bildete sich natürlich in den Beratungsanfragen ab. Hinzu kam auch bei uns die Sorge um Familie oder Freund:innen und die Ungewissheit, wie sich die Situation weiter entwickeln würde. OFEK hat in diesen Wochen vermehrt (digitale) Safe Spaces angeboten, also Räume, wo Menschen sich im geschützten Rahmen über ihre Wahrnehmungen und Gefühle austauschen können und miteinander politische Einordnungen, Widerstands- und Selbstbehauptungsstrategien entwickeln. Diese Formate wurden stark nachgefragt und sehr gut angenommen, die Rückmeldungen waren äußerst positiv.
 
Rechtsextreme Bewegungen und mit ihnen Teile der AfD instrumentalisieren die Auswirkungen der Pandemie für ihre Zwecke. Antisemitische Angriffe und Diskriminierung haben mit Zunahme von Verschwörungserzählungen im Zusammenhang der „Querdenken-Bewegung“ nochmal einen „Schub“ bekommen. Wie äußert sich das in den Beratungsbedarfen? 
„Es macht etwas mit Menschen, die Shoah- und NS-relativierende (Bilder-)Sprache auf den verschwörungsideologischen Corona-Demos und im Netz mitzubekommen. In Baden-Württemberg hatten wir vom Herbst 2020 bis Sommer 2021 immer wieder Anrufe von Personen, die das als Verhöhnung ihrer Familiengeschichte empfanden oder bei denen der transgenerationale Schmerz der Verfolgungserfahrung in retraumatisierender Weise wachgerufen wurde. Uns kontaktierte auch eine ganze Reihe Personen, die am Rande von Querdenken-Demonstrationen entweder Zeug:innen antisemitischer Propaganda wurden oder als ´politische Gegner:innen` bedroht und tätlich angegriffen wurden. Hier können wir mit rechtlicher Einordnung, Vermittlung von psychologischer Beratung und Prozessbegleitung weiterhelfen, teilweise im Verbund mit Beratungsstellen, die auf rechtsextreme Gewalt spezialisiert sind.“

Ist eure Arbeit durch die Pandemie erschwert? 
„Ja, sicher! Uns fehlt das direkte, persönlich Gespräch mit den Ratsuchenden. Wir beraten vor allem telefonisch, in seltenen Fällen auch per Videokonferenz. Da fehlt weitestgehend die Körpersprache, die Mimik, die Gestik. Es ist schwerer, einander im Gespräch zu ´fühlen`. Manchmal ist die Verbindung schlecht und man versteht sich nicht so gut. Wir beobachten aber auch einen gegenläufigen Effekt: Die Beratung am Telefon ist auf eine Art niedrigschwelliger. Es fällt nicht allen leicht, sich die Unterstützung einer Beratungsstelle zu suchen. Da bietet ein Telefongespräch manchmal ein geschützteres Gefühl als ein Treffen, die Ratsuchenden können anonym bleiben. Wir freuen uns darauf, bald wieder zunehmend in Präsenz zu beraten, werden aber die telefonische Möglichkeit auf jeden Fall beibehalten.
  
OFEK ist die einzige überregionale Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung. Wie wird das Angebot angenommen? 
„Es wird sehr gut angenommen. Uns erreichen Anfragen aus allen Ecken der Bundesrepublik.“

Vielen Dank! HvB, ZWST

(ZWST informiert, September 2021, Vorabveröffentlichung) 

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