Im Gespräch mit Evelin Schneyer, Geschäftsführerin der BAGFW

Im Gespräch mit Evelin Schneyer, Geschäftsführerin der BAGFW

Portrait

Liebe Frau Schneyer, zunächst möchten wie Sie ganz herzlich als Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) begrüßen. Sie sind jetzt seit dem 01. Mai 2024 in Ihrem Amt. Was sind Ihre Eindrücke, wie würden Sie eine erste Bilanz formulieren? „Ich habe eine sehr spannende Aufgabe in einer Umbruchzeit angetreten, die sowohl herausfordernd als auch bereichernd ist. Die Vielfalt der Themen und die Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Menschen sind besonders wertvoll. Eine zentrale Aufgabe ist die Koordination zwischen den Mitgliedsorganisationen, um gemeinsame Positionen zu entwickeln. Die Fachausschüsse ermöglichen es uns, spezifische politische Fragestellungen gezielt anzugehen. Ich repräsentiere die BAGFW in verschiedenen Netzwerken und bringe unsere Standpunkte in den politischen Diskurs ein. Insgesamt bin ich stolz auf die engagierte Teamarbeit, die es uns ermöglicht, soziale Belange effektiv zu vertreten.“

Der Bundeshaushalt 2025 beherrscht neben anderen Themen die tagesaktuellen Nachrichten. Die BAGFW und ihre Mitgliedsverbände schauen u.a. mit Sorge auf geplante Reduzierungen im Bereich Förderung von Migration und Unterstützung einer langfristig ausgerichteten Integration. Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund zählen zu den Hauptzielgruppen der ZWST. Wo sehen Sie haushaltspolitische Nachbesserungsbedarfe? „Die geplanten Kürzungen bereiten uns große Sorgen. Deutschland ist ein Einwanderungsland, in dem über ein Viertel der Bevölkerung eine Einwanderungsgeschichte hat. Angesichts der demografischen Herausforderungen ist es wichtig, Migration als Chance zur Bekämpfung des Fachkräftemangels zu betrachten. Die Verbände der BAGFW fördern aktiv die gesellschaftliche Teilhabe von Migrant:innen und haben ihre Angebote kontinuierlich weiterentwickelt. In der aktuellen Situation sind eine verlässliche Finanzierung und die Fortführung unserer Angebote von entscheidender Bedeutung. Die BAGFW wird sich weiterhin für stabile Mittel einsetzen und lädt Politiker:innen ein, sich vor Ort ein Bild von unserer Arbeit zu machen. Unser Ziel ist es, eine integrative Gesellschaft zu fördern, die Vielfalt als Stärke anerkennt.“

Anfang Oktober fand die 6. Konferenz der Wohlfahrt digital mit 250 Teilnehmenden statt. Welche Fortschritte der gemeinsamen Digitalisierung der Wohlfahrtspflege in Deutschland würden Sie hervorheben? „Die 6. Konferenz der Wohlfahrt digital hat eindrucksvoll gezeigt, wie weit die Digitalisierung in der Wohlfahrtspflege in Deutschland fortgeschritten ist. Die Freie Wohlfahrtspflege hat die Bedeutung digitaler Technologien erkannt und zahlreiche Initiativen zur Integration in Dienstleistungen und Arbeitsprozesse ergriffen. Die Pandemie hat die Notwendigkeit digitaler Angebote für Hilfesuchende verdeutlicht. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege haben begonnen, Unterstützungsangebote gezielt auf die Bedürfnisse unserer Klient:innen auszurichten und neue digitale Arbeitsprozesse erfolgreich implementiert. Ein zentraler Aspekt ist die Befähigung von Institutionen und Einzelpersonen, digitale Herausforderungen zu meistern. Ein Beispiel hierfür ist das ZWST-Projekt, das Schulungen zum Umgang mit Hassrede im Internet sowie in Cybersecurity und Projektmanagement anbietet. Besonders wichtig ist der Zugang zu digitalen Informationen für vulnerable Gruppen, wie Menschen mit Flucht- oder Migrationshintergrund sowie ältere Menschen. Trotz Fortschritten steht die Freie Wohlfahrtspflege vor Herausforderungen wie unzureichender technischer Infrastruktur und Datenschutzfragen. Insgesamt sind wir jedoch auf einem vielversprechenden Weg, die Digitalisierung der Wohlfahrtspflege weiter voranzutreiben und zur sozialen Integration beizutragen.“

Im Jahr 2024 blickt die BAGFW auf ein bedeutendes Jubiläum zurück: 100 Jahre engagierte Arbeit für sozialen Zusammenhalt und Unterstützung bedürftiger Menschen. Am 10. Dezember begeht die BAGFW das Jubiläum im Rahmen einer Festveranstaltung mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. In den zurückliegenden 100 Jahren hat die Freie Wohlfahrt immense Herausforderungen bewältigt und den gesellschaftlichen Zusammenhalt immer wieder festigen können. Warum ist sie als tragende Säule des Sozialstaates unerlässlich? „In diesen 100 Jahren hat die Freie Wohlfahrtspflege immense Herausforderungen bewältigt und sich als tragende Säule des Sozialstaates etabliert. Ihre Rolle ist unerlässlich, da sie nicht nur akute Hilfe leistet, sondern auch langfristige Lösungen für soziale Probleme entwickelt. Die Flexibilität der Freien Wohlfahrtspflege ermöglicht es ihr, schneller auf lokale Bedürfnisse zu reagieren als staatliche Institutionen. Angesichts neuer Herausforderungen wie dem demografischen Wandel, Digitalisierung und sozialer Ungleichheit entwickelt die Freie Wohlfahrtspflege kontinuierlich neue Konzepte, um den sich verändernden Bedürfnissen der Gesellschaft gerecht zu werden. Sie ist als tragende Säule des Sozialstaates auch in Zukunft unerlässlich, weil sie soziale Gerechtigkeit und Demokratie fördert.“

Werfen wir einen Blick in die Zukunft: Was sind aus Ihrer Perspektive die dringendsten Aufgaben, die die Freie Wohlfahrtspflege angehen muss? Wie werden sich die Tätigkeitsfelder der Freien Wohlfahrtspflege auf lange Sicht in Deutschland verändern? „In den kommenden Jahren wird sich die Freie Wohlfahrtspflege mit einer Vielzahl von Herausforderungen konfrontiert sehen. Der demografische Wandel wird die Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen, insbesondere in der Altenpflege, erheblich steigern. Gleichzeitig wird die Digitalisierung neue Möglichkeiten für die Bereitstellung von Dienstleistungen schaffen. Ein zentrales Anliegen wird auch die Bekämpfung der zunehmenden sozialen Ungleichheit sein. Darüber hinaus wird der Fokus auf Nachhaltigkeit sowohl in ökologischer als auch in sozialer Hinsicht zunehmen. Insgesamt stehen der Freien Wohlfahrtspflege spannende Zeiten bevor. Innovative Ansätze und enge Kooperationen mit Politik sowie anderen Akteuren der Zivilgesellschaft sind unerlässlich, um den zukünftigen Anforderungen gerecht zu werden.“

Worauf muss sich die Freie Wohlfahrtspflege mit Blick auf die Bundestagswahl 2025 und die sich verändernden Machtverhältnisse in den Landtagen einstellen? „Die Ergebnisse der letzten Landtagswahlen und die wachsende Zustimmung zu populistischen Parteien bereiten uns Sorgen. Ausgrenzung und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit sind mittlerweile in allen Teilen der Gesellschaft präsent. Daher wird sich die Freie Wohlfahrtspflege noch verstärkter für die Würde des Menschen und den Schutz unveräußerlicher Grundrechte einsetzen müssen. Es wird noch dringlicher sein, soziale Themen wie Integration, Migration und soziale Gerechtigkeit gemeinsam mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren entschieden zu vertreten – sowohl gegenüber der Politik als auch in der Öffentlichkeit. Als Träger von Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe tragen wir eine besondere Verantwortung, junge Menschen zu unterstützen, sich an demokratischen Werten zu orientieren. Das Engagement der Freien Wohlfahrtspflege gegen Ausgrenzung ist insgesamt unerlässlich, um den sozialen Zusammenhalt zu stärken und eine inklusive Gesellschaft zu fördern.“

Wir danken Ihnen für das Interview und wünschen Ihnen viel Kraft und Optimismus, um kommende Herausforderungen im Jahr 2025 zu meisten - gemeinsam mit den Mitgliedsverbänden der BAGFW. HvB, ZWST

Kurzvita: Evelin Schneyer (50) hat am 2. Mai 2024 die Position der Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) übernommen. Sie tritt damit die Nachfolge von David Hirsch an, der das Amt interimsmäßig nach dem Abschied von Gerhard Timm und seiner Stellvertreterin Sabina Bombien-Theilmann innehatte. Von 2007 bis 2021 war sie in leitenden Positionen bei Tafel Deutschland e.V. beschäftigt, ab 2018 als Geschäftsführerin. Über Jahre hinweg hat Evelin Schneyer daran mitgewirkt, die Organisation zu einer der größten sozialen Ehrenamtsorganisationen zu entwickeln Von 2021 bis 2024 war sie zunächst stellv. Geschäftsführerin, dann Geschäftsführerin der  Deutschen Vereinigung Morbus Bechterew e.V. Sie bringt umfangreiche Qualifikationen mit, darunter einen Master im Sozialmanagement sowie ein Diplom im Bereich Oecotrophologie.